Liebe Leserinnen und Leser,
ich hatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im März 2010 angenommen, das Thema „Vorratsdatenspeicherung“ (VDS) sei erschöpfend diskutiert. Seitdem hat sich jedoch die Krings-Uhl-Bosbach-Ziercke-Friedrichs-Fraktion einen Beißreflex zugelegt und steht wie Cato der Ältere bereit, um uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit mitzuteilen, dass die persönliche Freiheit zugunsten der allgemeinen Sicherheit zerstört werden müsse.
Das aktuelle Beispiel besteht sogar aus zwei Akten: zunächst hat die EU-Kommission angekündigt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einzuleiten, weil diese die EU-Richtlinie zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung nicht umsetzt. Dann erschließt ein verrückt gewordener Radikalreligiöser mehrere Menschen, und die Polizei findet ihn auch dank einer IP-Adresse, die sie angeblich im Rahmen der französischen VDS ermitteln konnte.
Schon ist er wieder da, der Beißreflex. Deutschland sei nicht sicher, radikale Islamisten warteten an jeder Ecke, wenn wir nicht die VDS sofort wieder einführen. Und der Bürger ist diesmal geneigt nachzugeben, denn es geht ja auch um seine eigene Sicherheit. Dem ist entgegenzuhalten, dass zwar der Attentäter auch dank seiner Spuren im Internet ermittelt werden konnte – aber offenbar hat auch die in Frankreich vorhandene Vorratsdatenspeicherung nicht den Tod der Opfer verhindern können. Sie mag allerdings das Auffinden des Attentäters beschleunigt haben.
Hätte aber in Deutschland der Attentäter wirklich nicht ermittelt werden können, weil die VDS fehlt? Falsch – denn es ist den Ermittlungsbehörden auch jetzt – ohne VDS – möglich, die Nutzer von IP-Adressen abzufragen. Die Provider müssen allerdings die dazu benötigten Daten nicht mehr sechs Monate speichern, sondern tun dies nur im Rahmen ihrer Abrechnungstätigkeit. Das kann eine Woche sein, aber die Telekom speichert bspw. nach wie vor deutlich länger. Die deutsche Polizei hätte also dieselbe Arbeit tun können wie ihre französischen Kollegen. Berichte aus Berlin und Dresden zeigen, dass sogar Handys millionenfach überwacht werden können, ohne mit den bestehenden Gesetzen in Konflikt zu geraten, sofern man vorher einen Richter um Erlaubnis fragt.
Der vom Bundesjustizministerium vorgestellte Report zur VDS sagt dies auch in aller Deutlichkeit: die von den Behörden meist genutzte Spur ist die IP-Adresse. Derzeit stellen die Provider auf ein neues Verfahren um, das sich IPv6 nennt. Damit steht eine so große Menge an IP-Adressen zur Verfügung, dass jedem Anschluss eine dauerhafte, nicht wechselnde IP-Adresse zur Verfügung gestellt werden kann. Damit wird das Thema VDS für IP-Adressen vom Tisch sein, weil sie praktisch wie der Ausweis zur persönlichen Ausstattung gehören.
Die VDS, die jetzt wieder vehement gefordert wird, zeichnet aber insbesondere auch Ort und Zeit jeder einzelnen Mobilfunkverbindung auf, also Telefon und Daten – damit werden iPhones und andere Smartphones zu echten Bewegungswanzen. Diese Daten werden aber nach Aussage des Reports so gut wie nie benötigt – aber genau um sie dreht sich der Streit in der Sache.
Wer also heute die VDS allein wegen der Ermittlung von IP-Adressen fordert, sagt die Unwahrheit. Er erklärt vielmehr bildlich den Kauf einer Kuh zur Bedingung, damit man ein Glas Milch trinken kann. Während aber unsere Ermittlungsbehörden die Milch weiterhin im Laden kaufen und die VDS gar nicht wirklich benötigen, werden die Kollateralschäden durch eine Überall-Überwachung einfach ausgeblendet.
Was zuletzt die angedrohten Strafzahlungen der EU-Kommission betrifft: Wer Milliarden für die Rettung ganzer Staaten bereitstellt, sollte für die Freiheit seiner Bürger durchaus auch ein paar Millionen bereitstellen.
Wer wie Krings, Uhl, Bosbach, Ziercke und Friedrichs diese Millionen aber für die ständige und anlasslose Überwachung seiner Bürger einsetzen möchte, sollte nach meiner Einschätzung besser vom Verfassungsschutz beobachtet werden, denn er steht nicht sicher auf dem Boden unseres Grundgesetzes.
Herzlichst,
Ihr JeanLuc7