Liebe Parlamentarier von SPD, CDU/CSU und FDP,
Man hat es als Abgeordneter heutzutage nicht leicht. Sicherheitsgesetze, EU-Finanzkrise, Rettungsschirm – wer soll da noch durchblicken, ob nun dieser oder jener Teil eines Gesetzes konform mit dem deutschen Grundgesetz ist? Deshalb sieht man sich immer häufiger nach Karlsruhe zitiert, wo die Neun Weisen in ihren roten Roben dem Gesetzgeber allzu oft den Weg weisen müssen. Und nicht zuletzt kann die Materie manchmal verzwickt sein – mancher Parlamentarier glaubt heute noch, dass das verworfene Gesetz zur Einführung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung verfassungsgemäß sei.
Heute habe ich einen Fall für Sie, der so eindeutig ist, dass Ihnen eine Beurteilung und eine Entscheidung nicht schwer fallen dürfte. Und ausnahmsweise geht es einmal um Sie selbst und nicht um die Bürger im Lande.
Wie die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf einen Entwurf des Geschäftsordnungsausschusses des Bundestages berichtet, sollen nach einem Plan von SPD, FDP und CDU künftig nur diejenigen Parlamentarier das Wort erhalten, die von den Fraktionen dazu bestimmt wurden. Andere Abgeordnete dürften dann nur noch ausnahmsweise und maximal drei Minuten lang reden – nach Rücksprache mit den Fraktionen.
Der Grund für diese absurde Idee ist leicht erklärt: Bei der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im vergangenen September hatte Bundestagspräsident Lammert außer der Reihe den Abgeordneten Willsch und Schäffler das Rederecht erteilt hatte; beide vertraten von ihren Fraktionen abweichende Meinungen. Nach Protesten hatte der Ältestenrat Lammert dafür gerügt. Jetzt soll also ein Maulkorb für Abweichler dies bereits im Vorfeld verhindern.
Die unausweichliche Konsequenz einer solchen Änderung der Geschäftsordnung (GO) ist aber – im Gegensatz zu manch anderem komplexen Gesetzgebungsverfahren – offensichtlich und sicher: Abgeordnete werden gegen diese Änderung klagen, und am Ende wird die GO-Änderung für verfassungswidrig erklärt. Denn:
GG Artikel 38, Absatz 1: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das Grundgesetz kennt keine Fraktionen und schon gar keinen Fraktionszwang. Wenn jetzt auch noch ein Maulkorb hinzukommt, ist das Maß mehr als voll.
Liebe Parteiführer von CDU, SPD und FDP – Eure Strategen arbeiten gerade an Strategien, wie man den unvermeidlichen Aufstieg der Piraten bremsen könnte. Mit dem geplanten Maulkorb für widerspenstige Abgeordnete wird Euch das nicht gelingen. Aber Ihr werdet doch klug genug sein, um frühzeitig zu erkennen, wie verfassungswidrig Euer Plan ist, nicht wahr?
Herzlichst,
Ihr JeanLuc7
— Update —
Wie heute (19.04.2012) verlautet, haben die Verantwortlichen bei FDP und SPD sich aus dem Projekt zurückgezogen. Damit wird es bis auf weiteres keinen Maulkorb für Abgeordnete geben. Mein Tipp: beim nächsten Mal prüfen Sie solche Ideen bitte, bevor sie das schriftliche Stadium erreichen – und vergessen sie gleich wieder.