Angst, Herr Wefing,

…ist selten ein guter Ratgeber. Und es ist auch zu bezweifeln, dass aus Angst entstandene Kommentare eine faire und offene Sichtweise der Dinge enthalten. Einen dieser Kommentare konnten wir in der vergangenen Woche auf den Seiten zwei und drei der ZEIT finden (hier auch online verfügbar). Wieder einmal müssen wir lesen, welch schlechte Menschen wir Internetbenutzer doch sind, ohne Unrechtsbewusstsein und anarchisch bis ins Mark. Und recht geschieht es uns nun, dass das Recht auch das Internet erobert und Schluss ist mit dem rechtsfreien, unzivilisierten Raum und dem Geschnatter von Nicht-Intellektuellen, dargestellt in weiteren Artikeln dieser von mir geschätzten Zeitung.

Wieder einmal lesen wir bei Ihnen von der Mär vom Internet als rechtsfreiem Raum. Und daraus leiten Sie eine Notwendigkeit der Kontrolle ab, „um das Internet zu entideologisieren und das Netz als einen Raum zurückzuerobern, in dem die Geltung des Rechts so selbstverständlich akzeptiert wird wie im richtigen Leben. In dem die Achtung der Menschenwürde nicht hinter der Freiheit des Stärkeren zurücktreten muss.“ (Übrigens sind „halbwegs technisch versierte Viertklässler [,die] mit ein paar Klicks bei wüster Pornografie landen“, nicht gleichzusetzen mit der zuvor von Ihnen so bildhaft beschriebenen Kinderpornografie, also dem Missbrauch von Kindern).

Das erstaunliche an diesen Aussagen ist, dass hier eine Divergenz vermutet wird, wo keine ist. Das Internet – so, wie Sie und die anderen Autoren es verstehen – war nie rechtsfrei. Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen präsentieren (Quelle: wikipedia.de): In Deutschland hat das BKA im Jahr 2006 165.720 Straftaten festgestellt, auf die das Merkmal „Tatmittel Internet“ zutraf – eine Steigerung zum Vorjahr um 40%. 80% davon waren Betrugsdelikte, darüber hinaus wurden 29.155 Fälle (9,4 Prozent mehr als im Vorjahr) der IuK-Kriminalität (hauptsächlich „Phishing“, also Diebstahl von Bank- und Kontodaten). In 2007 wurde nochmals eine Steigerung um acht Prozent verzeichnet. Es wurde außerdem in 2007 in 32.374 Fällen von illegalen Downloads ermittelt. Verlässliche Zahlen zum Thema Kinderpornographie entnehmen Sie bitte anderen Quellen.

Nun, einen rechtsfreien Raum stelle ich mir anders vor, etwa so: jeder darf tun und lassen, ohne dass er dafür zur Rechenschaft gezogen wir. Über 165.000 festgestellte und verfolgte Fälle von Kriminalität sprechen eine andere Sprache. Hier wird Recht durchgesetzt, genau wie in allen anderen Lebenslagen und mit denselben Konsequenzen für die Täter.

Wie an anderen Orten gibt es auch Internetbenutzer, die diese Freiheit überstrapazieren. Eine 13 Jahre alte Aussage John Perry Barlows aus den Frühzeiten des Internet als Beweis für die allgemein anarchischen Bestrebungen der Nutzer herzunehmen, ist jedoch gewiss kein guter Stil.

Nachdem der Irrglaube der Rechtsfreiheit des Internet nun ausgeräumt ist, kommen wir zu seinen Benutzern, die – wie Sie anonym zitieren – „keine Kontrolle wollen“. Nun, es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen staatlich manipulativer Kontrolle und den Arbeiten der Exekutive. Ich gebe Ihnen zunächst folgende Liste:

  • Ja, ich will, dass Menschen, die Kinder quälen, bestraft werden.
  • Ja, ich will, dass Menschen, die es in räuberischer Absicht auf mein Bankkonto abgesehen haben, bestraft werden.
  • Ja, ich will, dass auch Vergehen, bei denen das Internet eine Rolle spielt, bestraft werden.

Soweit, so gut. Schauen wir uns die Realität einmal an:

  • Diese „Bilder erniedrigter, gequälter, vergewaltigter Kinder “ will ich nicht sehen – aber bitteschön, schalte man doch erst einmal die Server ab. Dass das gut funktioniert, zeigen inzwischen einige Beispiele von Organisationen, die handeln, anstatt publikumswirksam Stopp-Schilder hochzuhalten. Steht aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass Server abzuschalten sind? Nein. Man will uns nur die Fenster schwarz einfärben. (Oh, ich vergaß: dazu braucht man gar kein neues Gesetz. Das geht jetzt schon.)
  • Kontodiebstahl wird im Internet oft eingeleitet durch eine „Infektion“ des Computers mit Viren und Trojanern. Seien wir nicht überheblich: diese Dinger sind inzwischen so gut, dass man sie nicht mehr ohne weiteres erkennen kann. Auch Virenscanner sind inzwischen manchmal machtlos. Aber statt gegen die Verbrecher vorzugehen, darf das BKA seit Januar 2009 selbst solche Trojaner in die Welt setzen, zu unserer Sicherheit natürlich. Die Schlupflöcher muss das BKA dabei bei den selben zweifelhaften Quellen einkaufen wie die Verbrecher.
  • Zum dritten: die Urheberrechtsverletzer. Ihr Vergleich mit dem Entwenden der Schallplatte im Laden hinkt, aber die Richtung stimmt: die digitalen Kopien sind Diebstahl, daran gibt es nichts zu verteidigen. Die beklagte „Gratismentalität“ allerdings haben andere zu verantworten. Beispiel: Meine frühere Firma hat 1996 (lange vor google maps) den ersten kostenlosen Routenplaner ins Netz gestellt – die Werbung wird schon dafür bezahlen, dachte man damals. So war es vielerorten,  und nachdem die Büchse der Pandora nun offen ist, kann man sie nicht mehr schließen. Lösungen wie Kulturflatrates werden aber erst gar nicht ins Spiel gebracht – offenbar hat die Contentindustrie eine weit bessere Lobby als die rechteverletzenden Heranwachsenden.

Ihre Erkenntnis der Differenzen zwischen nationalem Recht und internationalem Internet ist richtig. Allerdings trifft das alle internationalen Quellen. Per Satellit können wir viele TV-Kanäle empfangen, die uns in Bezug auf Toleranz wenig erbauliche Botschaften verbreiten. Gleiches gilt für Zeitschriften, die wir im Urlaub in anderen Ländern erstehen können.

Wenn nationales Recht versucht, Dogmen umzusetzen, wird es sich in einem demokratischen Rechtsstaat langfristig nicht durchsetzen können. Beispiele hierfür gibt es in ausreichender Zahl: Die Leugnung des Holocaust etwa, denn die Verblendeten hält das Gesetz nicht auf – eine Erkenntnis, auf die mich Ihr Artikel erst gebracht hat. Oder der recht neue Straftatbestand der Jugendpornografie, der sich auch auf Texte bezieht, also auf rein fiktive Geschehnisse. So ehrbar die Hintergründe sind, so unnötig sind solche Schranken für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Straftaten werden bei uns bestraft, den Müll in den Hirnen müssen wir aber auf anderem Wege wegräumen. Und über die fragwürdige Illegalität kommerzieller Glücksspiel-Webseiten und die Heilsbringung des staatlichen Lotteriemonopols wollen wir nicht ernsthaft diskutieren.

Wenn wir Internetsperren zulassen, ohne sie rechtlich abzusichern und auf wirkliche Straftatbestände beschränken, wenn wir Stoppseitenbesucher ohne Nachfrage kriminalisieren, aber die wahren Täter laufen lassen, dann sind wir auf dem besten Wege, unseren freiheitlich-demokratischen Staat Stück für Stück zugunsten fragwürdiger Sicherheitsbedenken zu demontieren. Das ist dann vielleicht nicht China, aber auch nicht mehr die Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Grundgesetzes von 1949. Das können Sie nicht ernsthaft wollen.

Tun wir uns lieber zusammen und nehmen unsere Politiker bei der Hand, damit sie ihren Job machen: handwerklich gute Gesetze, bei denen nicht die falschen unter die Räder kommen. Und schon gar nicht unsere Freiheit.

Herzlichst,

Ihr JeanLuc7

Heinrich Wefing ist ein deutscher politischer Journalist, Architekturkritiker und Buchautor. (Quelle: wikipedia.de). Er entstammt derselben Generation wie der Autor.

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