Werte Leserinnen und Leser,
im vergangenen Sommer haben wir viel über Meinungsfreiheit, Elternrecht, Körperverletzungen und Blasphemie hören und lesen dürfen. Neben der laut geführten Debatte rund um die Frage, ob das Prügeln die Beschneidung von Säuglingen und Jungen eine Körperverletzung oder ein Elternrecht ist und ob schlechte Filme über Religionsstifter in Deutschland gezeigt oder verboten werden dürfen, entspann sich, ausgelöst durch einen Artikel des Reaktionärs Martin Mosebach, eine Diskussion um die Frage, ob Gotteslästerung nicht besser unter Strafe gestellt werden solle.
Mosebach berief sich dabei auf das Grundgesetz – dort steht tatsächlich etwas vom „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, in dem das deutsche Volk sich seine Verfassung gegeben habe. Und weil das als Aufhänger recht wackelig und die Bundesrepublik ein weltanschaulich manchmal weitgehend strikt neutraler Staat ist, schließt er daraus: „Aber auch für den weltanschaulich strikt neutralen Staat könnte sich die Notwendigkeit einer Bekämpfung der Blasphemie ergeben, wenn die staatliche Ordnung durch sie gefährdet wird.“ Er erklärt, dies könne geschehen, „wenn eine größere Gruppe von Gläubigen sich durch die Blasphemie in ihren religiösen Überzeugungen so verletzt fühlt, dass ihre Empörung zu einem öffentlichen Problem wird“.
Abgesehen davon, dass die Verletzung der religiösen Überzeugungen einer kleineren Gruppe offenbar kein Problem darstellt, heißt dies übersetzt und auf die aktuelle Situation angewandt: „Das Problem gewaltbereiter Salafisten in Deutschland lösen wir am besten, indem wir ihnen keinen Grund mehr geben, sich über uns zu echauffieren.“ Die gleiche Argumentation finden wir auch bei Merkel und Westerwelle, die lieber konstruierte Gründe finden, Filme zu verbieten oder das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit auszuhöhlen, als sich in angemessener Weise mit den Orthodoxien dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Warum stört es kaum, dass wir unsere Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat Stück für Stück aufgeben, um den Religiösen mehr und mehr Raum einzuräumen? Der Rechtsstaat – die Garantie, dass ein einheitliches Recht für alle gilt – gerät ins Wanken, wenn wir Spezialgesetze beschließen, die die Religiösen vor kritischen Fragen schützen, anstatt diese Fragen zu stellen und zu diskutieren. Die Freiheit ist bedroht, wenn wir Gewaltbereitschaft eindämmen wollen, indem wir Meinungen verbieten. Nicht die vielfältigen Meinungen sind die Gefahr, sondern jene, die nicht verstanden haben, dass weltliches Recht und der damit einhergehende Gewaltverzicht des Einzelnen eine der Grundlagen für die modernen Demokratien sind.
Die wahre Gefahr geht jedoch von den Orthodoxen aus, von denen wir dummerweise in jeder Religion einige in Führungspositionen finden. Die einen glauben, das auserwählte Volk zu sein, die anderen halten ihren Glauben für den einzig wahren, und die dritten erklären bei jeder Gelegenheit, ihre Dogmen seien unantastbar. Wie viel einfacher war die Welt, als noch Legionen von Göttern angebetet wurden – damals war immer noch Platz für neue Sterne am Himmel. Nachdem sich der Himmel jedoch gelichtet hat und wir statt Göttern dort die Milchstraße sehen, scheint der Platz recht eng geworden – trotz der Größe des Universums.
Man schüttelt als Atheist gerne den Kopf und möchte die Religionsführer fragen, ob sie wirklich an all das glauben, was ihre Bücher erzählen: die Welt in 7 Tagen erschaffen, 72 Jungfrauen im Himmel, Dreifaltigkeit, Auferstehung – all die Dinge, die Religionen aus rationaler Sicht so fremdartig, unlogisch und konstruiert erscheinen lassen. Die Antwort bleibt offen – aber die Dogmen werden täglich gepredigt und von vielen Millionen Menschen geglaubt. Ich nenne das Verführung – noch dazu eine, deren Heilsversprechen im realen Leben nicht zur Auszahlung gelangen. Teufel, ist das clever!
Es bleibt daher unsere gesellschaftliche Aufgabe, unsere Werte – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat – gegen Angreifer zu verteidigen. Das bedeutet eine klare Absage insbesondere an Gewalt, aber auch an religiöse Sonderbehandlungen und -gesetze. Ohnehin bleibt dem Atheisten der Sinn eines Blasphemiegesetzes auf ewig verborgen.
Die biblische Geschichte rund um Abraham und seinen Sohn handelt vorrangig von einer geplanten Opferung des eigenen Sohns und einer Ziege in einer Nebenrolle. Letztlich verliert bloß die Ziege ihr Leben, der Sohn nur seine Vorhaut. Wenn also die Beschneidung einen Sprung vom Menschenopfer hin zur rituellen Körperverletzung darstellt, dann ist das neue Gesetz vielleicht nur das letzte Rückzugsgefecht der Orthodoxen.
Es grüßt herzlich,
Ihr JeanLuc7