Frau von der Leyen und die Wahrscheinlichkeits-rechnung

Liebe Leser,

Wahrscheinlichkeitsrechnung, im Fachdeutsch auch Stochastik genannt, ist das vielleicht schwierigste Kapitel der Mathematik. Mit der Wahrscheinlichkeit verhält es sich dabei wie mit anlasslosen Speicherung von personenbezogenen Daten: die Ergebnisse sind nur richtig gut, wenn alle Daten erfasst werden, und andererseits bietet das Ergebnis unglaublichen Spielraum für Interpretationen in alle Richtungen.

Frau von der Leyen hat in einem Interview, das am 26.07. in der Welt veröffentlich wurde, erneut gezeigt, wie gut sie es versteht, Zahlen als Beweis für ihre ganz eigene Sichtweise der Welt zu verwenden. Und wie sie es zudem beherrscht, aus ganz unterschiedlichen Zahlenwerken einen Cocktail zu mischen, der vor allem zweierlei ist: bunt und ungenießbar. Ich zitiere:

Wir haben 40 Millionen Internetnutzer in Deutschland. Die zeitlich befristete Petition gegen den Vorschlag ist von rund 134.000 Nutzern unterzeichnet worden. Diese Relation muss man sehen.

Und direkt im Anschluss dazu:

In Umfragen halten über neunzig Prozent der Nutzer die Sperrung von Kinderpornoseiten für richtig, auch wenn klar ist, dass sie kein Allheilmittel sein kann.

So ist das also. Die 0,34% Internetnutzer, die die Online-Petition unterzeichnet haben, sind Frau von der Leyen egal und ein zu vernachlässigender Anteil. Anders die 90%, die auf die Frage „Sind Sie für ein Gesetz zur Sperrung kinderpornographischer Seiten im Internet oder dagegen?“ mit „Ja“ geantwortet haben – das ist eine satte Mehrheit. Nun lassen wir einmal die Art der Fragestellung außer acht, die einem kaum eine andere Chance lässt als ein „Ja“ als Antwort. Betrachten wir einmal, wie die 90% berechnet wurden.

Die – genau genommen – 92% Befürworter entstammen einer repräsentativen Umfrage des Instituts Infratest dimap vom 12. und 13. Mai im Auftrag der Deutschen Kinderhilfe. Es wurden 1000 Personen befragt, in allen Bevölkerungsgruppen war das Ergebnis gleich eindeutig. 1000 Personen sind – in Bezug auf 40 Millionen – 0.0025%, also weniger als ein Hunderstel der Unterzeichner der Online-Petition. Aber durch den Zusatz „repräsentativ“ wirkt diese Zahl viel glaubhafter.

In die Kritik geraten ist die Zahl wegen der offensichtlich manipulativen Art der Fragestellung dennoch. Der Verein MissbrauchsOpfer Gegen InternetSperren gab daraufhin ebenfalls eine Umfrage zum gleichen Thema und beim gleichen Meinungsforschungsinstitut in Auftrag, wobei die Fragen anders formuliert waren. Im Ergebnis dieser zweiten Umfrage sprachen sich mehr als 90 Prozent der Teilnehmer gegen eine Sperrung von Webseiten aus und befürworteten stattdessen eine konsequente Löschung der Webseiten sowie die strafrechtliche Verfolgung der Betreiber.

Der Zusammenhang von Zahlen und Fragestellung erschließt sich sehr schnell. Wohlweislich verzichten Politiker – unter ihnen auch Frau von der Leyen – gerne auf eine Nennung der Frage, sondern geben nur die Zahl als Antwort zum besten. Das ist nichts Neues. Ebenfalls nicht neu, aber doch nach wie vor erschreckend und entlarvend ist das offensichtliche Desinteresse Frau von der Leyens an jeder Kritik ihrer Vorschläge.

Frau von der Leyen hat ihre ursprüngliche Idee von freiwilligen Verträgen zwischen BKA und Internetprovidern nicht durchsetzen können. Dieses Vorgehen war offenbar sogar ihren Parteikollegen zu wenig rechtsstaatlich. So verteidigt sie nun ein halbgares Gesetz, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Gewaltenteilung aushebelt, und sie ist auch noch stolz darauf: „Meinen Spitznamen finde ich patent. Viel Feind, viel Ehr'“. Hallo? Hat diese Frau denn nicht begriffen, dass der Frundbergsche Satz von den Feinden und der Ehre heute demokratischen Spielregeln gewichen ist und das damals bekämpfte Volk heute ihr Arbeitgeber ist?

Frau von der Leyens nächstes Ziel ist übrigens die Schaffung von Benimmregeln im Netz:

Um Informationsgeschwindigkeit und Möglichkeiten im Netz für Heranwachsende zu schützen, muss es nicht nur bei einigen Vorreitern die freiwillige Netiquette geben, sondern müssen in allen internetbasierten Netzwerken als Standard Respekt, Schutzmechanismen und Achtsamkeit weiterentwickelt werden.

Ich bin sehr gespannt, welche Ideen sie zur zwangsweisen Umsetzung sieht. Ich habe einen Vorschlag: Statt alle sozialen Netzwerke für Kinder fit zu machen, lassen wir sie erst ab 18 rein. Das erspart uns allen eine Menge Kindergarten – in jeder Hinischt.

Herzlichst,

JeanLuc7



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