Ich sehe Ihr Gesicht derzeit an vielerlei Orten in Berlin auf Werbeplakaten. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob man Sie über das aufgeklärt hat, wofür Sie werben. Deshalb möchte ich das hier nachholen.
Am Sonntag ist Wahltag. Die zu treffende Entscheidung ist aber keine zugunsten einer Partei, sondern zwischen Freiheit und Gemeinsamkeit. Sie sehen darin keine Gegensätze? Nun, ich auch nicht. Was ist da also los?
Der Hintergrund: An Berliner Schulen gibt es seit 2006 das Fach Ethik. Nach dem sogenannten “Ehrenmord” an Hatun Sürücü wurde ein übergreifender Werteunterricht an den Berliner Schulen als wichtig angesehen. In Ethik sollen grundlegende verbindende Werte unserer Gesellschaft vermittelt werden. Auch der Dialog zwischen den Kulturen sollte gefördert werden. Religion als Wahlfach wurde davon nicht angetastet, das Fach wurde weiterhin angeboten – wahlfrei, wie es in Berlin seit 1948 gute Tradition ist.
Kann man wirklich gegen ein solches Unterrichtsfach werben? Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2007 jedenfalls entschieden, dass der Ethikunterricht verfassungsgemäß ist. Berliner Schüler können sich demnach nicht vom Ethik-Unterricht befreien lassen, indem sie sich auf die Religionsfreiheit oder auf das Erziehungsrecht ihrer Eltern berufen.
Wo ist dann das Problem? Nun, um Platz für Ethik zu schaffen, wurde der wahlfreie Religionsunterricht vielerorts auf den Nachmittag verlegt mit dem Ergebnis, dass weniger Schüler daran teilnehmen als bisher. Und so wurde bei einigen Bürgern die Idee geboren, Religion – ganz neu – als Pflichtfach parallel zu Ethik zu verankern und dafür die Berliner Gesetze zu ändern. Fortan müssten Kinder bzw. ihre Eltern zwingend entscheiden zwischen Religion ODER Ethik. Das ist mit der „Freiheit“ gemeint, die jene für sich reklamieren, die für JA-Stimmen werben. Dann bekommen Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime ihren eigenen Religionsunterricht und müssen keine gemeinsame Ethik mehr lernen. Mit einem NEIN hingegen stimmt man für Ethik UND Religion – dann können die Schüler beides haben (wobei Religion Wahlfach ist, also nicht belegt werden muss).
Um die zur Wahl stehende Frage noch einmal zu verdeutlichen, fasse ich zusammen: „Sollten unsere Kinder auf einen Ethikunterricht in der Gemeinschaft aller verzichten – Ja oder Nein?“ Die Antwort fällt Ihnen bestimmt nicht schwer.
Man könnte übrigens meinen, der Wahlkampf würde geführt zwischen Gläubigen und Atheisten. Wie das Bündnis Christen pro Ethik eindrucksvoll belegt, sind aber längst nicht alle Gläubigen vom Tun der Ja-Sager angetan. Auf deren Webseite wird dargestellt, wie sehr einige wenige Verantwortliche der Katholischen und der Evangelischen Kirche zusammen mit einigen Politikern versuchen, der Gemeinschaft ihren Stempel aufzudrücken. Die Argumente sind auf der Webseite nachzulesen, daher möchte ich hier nur aus einem Schreiben der Christen pro Ethik zitieren:
„Besonders dafür haben wir uns inhaltlich vorgenommen, egal, wie der Ausgang des Volksentscheides aussehen wird, möglichst nicht in irgendeine Art von Siegesstimmung zu verfallen. Unseres Erachtens sind dafür die Schäden zu gross, die durch diesen „Glaubenskrieg“ und seine Methoden für unsere Kirchen und das Ethikfach entstanden sind. Es sind unseres Erachtens innerkirchliche Strukturen ans Licht gekommen, von denen wir hofften,
dass sie nicht mehr existieren.“
Das zeigt, dass der eigentliche Riss tief durch die Kirchen selbst geht, und es freut mich, dass zumindest diese Gruppe den Streit nicht zum Anlass für eine Siegesfeier nimmt, denn durch eine Zuspitzung scheinreligiöser Diskussionen leidet immer nur die Gemeinschaft als Ganzes.
Lieber Günther Jauch, gehen Sie am Sonntag zur Wahl und stimmen Sie mit Nein. Das wäre richtig klasse!
Herzlichst, Ihr JeanLuc7
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Günther Jauch ist ist ein deutscher Showmaster, Journalist und Produzent. … Jauch vertritt, wie er verschiedentlich in Interviews erläuterte, konservative Erziehungsprinzipien. … Im Frühjahr 2009 unterstützte Jauch als einer von vier Testimonials in der Plakatwerbung das Berliner Pro Reli-Volksbegehren. (Quelle: wikipedia.de)
Nachtrag: Das Volksbegehren wurde mit 51% der abgegebenen Stimmen abgelehnt. Die Wahlbeteiligung betrug 29%.