Werte Leserinnen und Leser,
Der Skandal rund um NSA, PRISM und Tempora hat inzwischen seltsame Ebenen erreicht. Politiker diskutieren darüber, ob deutsche Geheimdienste sich in Deutschland an deutsche Gesetze gehalten haben und werfen sich gegenseitig Mittäterschaft vor, obwohl niemand etwas gewusst haben will.
Klingt ein bisschen wie Deutschland nach 1945, und der sogenannte Innenexperte Uhl hat auch sogleich einen Vergleich zwischen der aktuellen Spiegel-Berichterstattung („Der Pakt„) und den Hitler-Tagebüchern von 1983 hergestellt. Uhl weiß eben, wie man Brände stiftet.
So absurd und misslungen Uhls Vergleich sein mag: bisher ist keine einzige von Snowdens Aussagen widerlegt worden. Im Gegenteil: Stück für Stück mussten die Verantwortlichen zugeben, dass Snowdens Aussagen zu PRISM, Tempora und XKeyCore grundsätzlich den Tatsachen entsprechen. Der NSA-Chef Alexander war da deutlich weiter als unsere Kanzlerin, als er auf einem Sicherheitsforum in Aspen bemerkte:
„Wir sagen ihnen nicht alles, was wir machen oder wie wir es machen – jetzt wissen sie es“
Manche haben bis jetzt noch nicht das Ausmaß dieses Skandals begriffen. So schreibt der konservative Brandstifter Fleischhauer in seiner Spiegel-Kolumne:
„Der Datenhunger der NSA mag paranoid sein, aber er beschränkt nicht unsere Freiheit, es sei denn, man glaubt ernsthaft, dass die Informationen erhoben werden, um uns damit zu erpressen.“
Man muss schon ein sehr großer Merkel-Fan sein, um sieben Wochen nach dem Beginn des NSA-Skandals noch so blauäugig durch die Welt zu laufen. Der Gründer und erste Chef des FBI, Edgar Hoover, hat jahrzehntelang Akten über Politiker und Prominente anlegen lassen, um sie willfährig und erpressbar zu machen. Die NSA wird es genauso handhaben, wenn es ihren Zielen entgegenkommt. EU-Politiker berichten derzeit über massives Lobbying seitens US-Regierung und NSA bezüglich des aktuell verhandelten Datenschutzabkommens. Warum sollte man Parlamentarier aber mühsam von der Richtigkeit der eigenen Meinung überzeugen, wenn man ihnen das vorlegen kann, was sie vielleicht lieber verbergen möchten?
Einmal geträumt: Wenn man wirklich ein wenig Ruhe in die Situation bringen wollte, sollte man alsbald die folgenden Punkte unterlassen bzw. unterbinden:
- parteipolitisches Gezänk: Auch wenn gerade Wahlkampf ist, ist die Schnüffelaffäre kein Grund, sich die Schuld gegenseitig in die Schuhe zu schieben. Seit 2001 haben bis auf Linke und Piraten alle einmal regiert. CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP – alle haben mitgemacht beim Abbau der Bürgerrechte. Bevor jemand den Finger zum Widerspruch hebt und „Leutheusser-Schnarrenberger“ sagt: dieses Feigenblatt schmückt die FDP, aber Leuten wie Rösler und Westerwelle sind persönliche Freiheiten reichlich egal, wenn sie wirtschaftlichen Freiheiten entgegenstehen.
- die Diskussion über ein „Supergrundrecht Sicherheit“: ein solches Grundrecht ist, wie bereits früher dargelegt, nicht einmal in einfacher Form vorhanden. Es gibt zudem keine Rangliste wichtiger und weniger wichtiger Grundrechte. Äußerst bedenklich ist aber, dass ausgerechnet unser IM Friedrich (gern auch als „Verfassungsminister“ bezeichnet) das offenbar nicht zur Kenntnis nehmen möchte. Noch dramatischer ist, dass Merkel ihm nicht widersprochen hat.
- die Überwachung „über Bande“: die Beschaffung von Informationen, die man im eigenen Land auf legalem Wege nicht gewinnen kann, muss klar als illegal gebrandmarkt werden. Der „edlen Zweck“ (IM Friedrich) heiligt eben nicht die Mittel.
Einmal weiter geträumt: Als nächstes wäre wohl eine gewisse Ehrlichkeit aller beteiligten Parteien nötig:
- Ja, wir hegen einen Generalverdacht gegen alle Bürger, weil wir glauben, dass wir
euch so am besten kontrollieren könnenso den Terror am besten bekämpfen können. - Ja, wir haben jahrelang zumindest stillschweigend hingenommen oder geahnt, dass massenhaft Daten abgeschöpft werden.
Und wir würden es gerne auch selbst können. - Ja, wir sehen tatsächlich keine Chance, das Ausspähen durch NSA und andere zu beenden. Die machen eh, was sie wollen.
Und wir auch.
Und im dritten Traum könnten dann einzelne Aufrechte aus den Reihen der Politiker hervortreten:
- Wir werden anlasslose Vorratsdaten nicht mehr erfassen. Wir wissen inzwischen, dass sie nichts zur Ergreifung von Terroristen beitragen können, wie man beispielsweise in Boston sehen konnte.
- Wir werden uns für den Vorrang des Datenschutzes vor Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen einsetzen. Wir haben erkannt, dass eine Post-Privacy-Gesellschaft eine Gefahr für unsere Freiheit und damit auch für Demokratie und Rechtsstaat darstellen.
- Wir werden uns für ein Verbot der verdachtslosen Ausspähung von Bürgern anderer Staaten durch Geheimdienste im Rahmen der UN-Grundrechtechtecharta einsetzen. Das ist ein sehr langfristiges Ziel, aber das einzige, das staatenübergreifend wirken könnte.
Derzeit sieht es aber eher anders aus. Merkel wird das ganze aussitzen, denn einen Großteil ihrer Wähler interessiert das Thema nicht – „mior hobbn jo nueschd“ (zu verbergen)*. Die SPD wird das Thema nicht ganz so heiß kochen, denn Frank Steinmeier und andere könnten sich an der üblen Suppe die Zunge verbrennen. Die FDP wird ihren Koaltionspartner nicht vergrätzen, und die Piraten schaffen den Sprung über die 5-Prozent-Hürde nicht.
Wenn sich die Verantwortlichen da mal nicht verrechnet haben. Das Internet macht nämlich nicht nur uns zu gläsernen Bürgern, sondern auch die Geheimdienste. Wenn nicht einmal die NSA als geheimste aller Behörden ihre Abhörprogramme geheim halten kann, dann sind die kleinen Geheimnisse unserer Politiker erst recht nicht vor uns sicher.
Und wir wollen doch nicht dieselben Fehler machen wie nach 1945.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7
* Jörg Kachelmann auf Twitter auf Merkels Aussage, das Internet sei für uns alle „Neuland“.