Werte Leserinnen und Leser,
tatsächlich hat es mich nur wenig berührt, als Thomas Hitzlsperger sich am vergangenen Mittwoch outete. Schön für ihn – und reichlich spät. Aber da ich diese ganze Situation bereits vor über zwanzig Jahren hinter mich gebracht habe, ist sie inzwischen zu einer Normalität geworden, die ich nicht mehr bemerke. Und sieht man einmal von den Weltmeisterschaften ab, hat mich Fußball sowieso noch nie sehr interessiert.
Ich neige bei solchen Nachrichten dazu, das eigene Verständnis vom Miteinander-Leben zu verallgemeinern: Heute ist das ja alles ganz einfach, Schwule spielen in jeder TV-Serie eine Nebenrolle, die Nachbarn grüßen, der Arbeitgeber lässt dem Mann regelmäßig Grüße ausrichten. Und, und, und…
Meine schöne kleine Seifenblasenwelt.
Dieser Tage überschlagen sich die Medien und die öffentlichen Vertreter in Lob für Thomas Hitzlsperger und seinen Mut, als erster Fußballer diesen Schritt getan zu haben. Aber schon da füllte sich meine Gallenblase: Hatte dieselbe Frau Merkel nicht vor kurzem in der ARD-Wahlarena gesagt, dass sie sich persönlich schwer tue mit der Gleichstellung?
Während die Medienberichte – sogar in der konservativen Presse – weitgehend positiv formuliert waren und zumindest zu Toleranz aufforderten (warum eigentlich nie Akzeptanz?), ergoss sich dann in meine Galle ein Strom homophober Forumskommentare, als ob es die letzten dreißig Jahre nicht gegeben hätte. Da grauen sich alternde Heterosexuelle vor lüsternen Blicken in der Gemeinschaftsdusche, sehen ihre (vorausgesetzt heterosexuellen) Kinder versucht, sich fürs Schwulsein zu entscheiden und diskutieren eifrig, dass sie doch am liebsten in Ruhe gelassen werden wollen. Don’t ask, don’t tell.
Leute – warum lest Ihr die Artikel dann? Wisst Ihr nicht, wie Klickraten funktionieren? Bei ZEIT Online brach am Mittwoch direkt nach Bekanntgabe der Meldung erstmals der Server zusammen…
Dann bekamen die Homophoben auch noch Futter von meinem ganz speziellen Freund Jasper von Altenbockum. Der ist Leiter des Innenressorts bei der FAZ und für mich so eine Art kommentatorischer Südpol – meine persönliche Meinungs-Kompassnadel zeigt immer in die umgekehrte Richtung. Dieser Herr erfrechte sich, in einem Kommentar Hitzlspergers Outing mit der Rocky Horror Picture Show zu vergleichen, sprach abfällig von der in seinen Kreisen so gerne zitierten (und mir unbekannten) Schwulen- und Lesben-Lobby und forderte allen Ernstes unsere Toleranz für die heterosexuelle Mehrheit ein, denn „Ich bin heterosexuell, und das ist gut so.“
Das war der Punkt, an dem meine Galle überlief.
Den Vogel aber schossen dann die Kirchen in Baden-Württemberg ab. Dort soll ein neuer Lehrplan im Bereich Sexualkunde auch die unterschiedlichen Ausprägungen behandeln. Mit anderen Worten: Den Schülern soll nahe gebracht werden, dass Schwule auch Menschen sind, und zudem nicht solche zweiter Klasse. Und nicht zuletzt motiviert man auch den einen oder anderen schwulen Schüler – solche soll es ja auch geben. Ein offensichtlich christlich verwirrter Lehrer startete eine Petition gegen dieses Vorhaben und machte es damit zeitgleich mit dem Outing der Öffentlichkeit bekannt.
Die zwei evangelischen Landeskirchen und die zwei katholischen Diözesen forderten nun in einer gemeinsamen Mitteilung, dass in der Bildung jeder Form der Instrumentalisierung, Ideologisierung und Indoktrination gewehrt werden müsse. Dies gelte „nicht zuletzt im sensiblen Bereich der sexuellen Identität und damit verbundener persönlicher und familiärer Lebensentwürfe“.
Das war der Moment, an dem ich Galle kotzen musste.
Ausgerechnet die Kirchen! Zweitausend Jahre Ideologisierung und Indoktrination haben wir über uns ergehen lassen müssen, ehe in Berlin erstmals ein Volksbegehren erfolgreich die Religion aus der Schule verbannte. Seit es Religionen gibt, versuchen sie, uns weiszumachen, welche Lebensentwürfe ihr Gott geil findet und welche nicht. Auf Scheiterhaufen haben sie alle verbrannt, die clever genug zum Denken waren – und zu dumm oder zu aufrecht genug zum Widerrufen, wenn es ernst wurde. Und dies sowieso: Wer Kinder missbraucht, sollte ins Gefängnis und nicht noch mit dem Zeigefinger mahnen, wenn schwule Jugendliche endlich auch im Unterricht erfahren, dass sie ganz normal sind.
Und jetzt, nach zwei Tagen, berührt mich Thomas Hitzlspergers Outing endlich tief und ehrlich. Ich habe gelernt, dass auch im Jahre 2014 in Deutschland immer noch eine gehörige Portion Mut erforderlich ist, um ehrlich zu sagen: „Ich liebe einen Mann“ – oder ganz ohne Beziehungsbezug: „Ich stehe auf Männer“. Und ich wünsche ihm und allen anderen, die diesen Schritt unternehmen und nicht wissen, was sie erwartet, alles nur erdenklich Gute. Vielleicht noch dies: Als ich diese Lüge abgelegt hatte, merkte ich erst, wie viel Kraft sie mich zuvor gekostet hatte; Kraft, die ich endlich einsetzen konnte, um mein Leben zu leben.
Und für Euch Ewiggestrige dies: Nicht das Schwulsein ist eine Schweinerei. Sondern Eure Ansichten.
Es grüßt herzlich
JL7