Werte Leserinnen und Leser,
wer wie ich viele Jahre geglaubt hat, dass vollständige Überwachung der Bevölkerung nach wie vor eine Dystopie sei und in das Reich der Verschwörungstheorien und spannender Agentenfilme gehöre, wurde vor einem Jahr sehr unsanft aus seiner Wolke geholt, als Edward Snowden der Presse eine umfassende Dokumentation der Aktivitäten der amerikanischen NSA und des britischen GCHQ überließ.
Seitdem ist es um diese Sammlung nicht mehr ruhig geworden. Regelmäßig hören wir von weiteren Aktivitäten, von denen einige so unglaublich sinnlos klingen, dass man das Gefühl gewinnt, bei den Geheimdiensten seien Paranoia und Spielsucht zu einem giftigen McFlurry zusammengemixt worden. Terroristen in Online-Rollenspielen wie Warcraft zu suchen (ist da nicht jeder irgendwie Terrorist?) oder täglich Millionen von Bildern und Metadaten zu scannen, um zu lernen, wer wen kennt und dann auf Basis dieser Informationen Menschen mit Drohnen zu töten – da hat jemand eindeutig die falschen Erkenntnisse aus dem 11. September 2001 gezogen.
Offenbar scheinen auch unsere eigenen Geheimdienste in ihrem Stellenprofil folgende Merkmale zu erwarten:
- kindliche Verspieltheit, gerne ScriptKiddie- und Counterstrike-Erfahrungen (oder andere Egoshooter mit vergleichbarem Bedrohungspotenzial)
- moralisch unvoreingenommen (gern auch Soziopath), Schwarz-Weiß-Sicht von Vorteil
- kritiklose Begeisterungsfähigkeit fürs Sammeln von Daten aller Art
- erfinderisch und offen für innovative Bedrohungen und Waffen aller Art
Wie sonst ist es erklärlich, dass trotz des größten Skandals um Überwachung seit Beginn der Datenaufzeichnungen der deutsche BND und inzwischen sogar die Bundeswehr verkünden, noch in diesem Jahr die Überwachung weiter auszubauen und dies letztlich spielerisch-kindlich begründen:
- Der BND verlangt 300 Millionen Euro, um zukünftig Social-Media-Dienste wie Twitter und Facebook in Echtzeit überwachen zu können. Man verspricht sich daraus frühzeitige Informationen über die Stimmung im Volk. Ganz abgesehen davon, dass der BND nur das Ausland überwachen darf und eine Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern in Facebook schwer und bei Twitter unmöglich sein dürfte – es ist nicht die Aufgabe des BND, Stimmungen im Volk aufzuzeichnen und daraus mögliche politische Vorhersagen zu machen. Es mag aber sein, dass Merkel sich dafür interessiert…
- Der BND begründet seine Forderung trotzig damit, dass die anderen es auch können. Und wenn das Parlament das Geld nicht freigibt, fiele man noch hinter die Geheimdienste von Italien und Spanien zurück – welche Katastrophe!
- Die Bundeswehr hat gerade zugeben müssen, dass sie ebenfalls Social Media überwachen will. Und es juckte die Jungs im Innenministerium kein bisschen, dass bis zum (nicht geplanten) Leaken des Plans behauptet wurde, die Bundeswehr habe mit dem Projekt “Wissenserschließung aus offenen Quellen” gerade nicht vor, Facebook&Co zu überwachen. Man erklärte diese Kehrtwendung lapidar mit einem „Büroversehen„.
Der Plan des BND wurde dem Parlament zudem verheimlicht – erst eine Recherche des NDR und der Süddeutschen Zeitung brachte die “Echtzeitanalyse von Streaming-Daten” zutage.
Geht’s noch? Drehen die jetzt endgültig durch? Und die Bundesregierung – in diesem Falle wieder die DDR-erfahrene Angela Merkel als oberste Chefin des BND – unterstützt das Ganze, indem sie sich vornehm zurückhält und nicht kommentiert. Und die SPD stimmt am Ende im Parlament erneut für die BND-Kriegskredite. Und wo ist der ehemalige „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ Gauck, wenn man ihn wirklich braucht?
In diesen Tagen wird mit Bezug auf die Ukraine gerne von einer Wiederholung der Geschichte fantasiert. Aber wir stehen nicht am Rande eines neuen Weltkriegs – er hat längst begonnen. Still und heimlich werden Schutzmauern beseitigt, Felder besetzt, Rechte eingeschränkt. Und am Ende wird neben ein paar realen Opfern wie Snowden vor allem eins zu beklagen sein: der Verlust unserer persönlichen Freiheit. Sofern wir das dann noch bemerken.
Wäre das alles doch nur eine Dystopie geblieben…
Es grüßt herzlich
Ihr JL7
Nachtrag: Auf abgeordnetenwatch.de hat der Bundestagsabgeordnete Dr. Philipp Lengsfeld (Berlin-Mitte) auf meine Frage nach seiner Beurteilung des Sachverhalts wie folgt geantwortet:
Die von Ihnen angefragte mögliche zusätzliche Unterstützung des BND zur Analyse von Social-Media-Diensten oder Kurznachrichtenportalen fällt nicht in meine fachliche Zuständigkeit. Wenn das Thema wirklich die Fraktions- oder Plenarebene erreichen sollte (was ich eher nicht denke), wäre es auch sicherlich kein Thema, wo ich mir eine eigene Positionierung zusätzlich zur Fraktionslinie erarbeiten würde. Deshalb kann ich nur mit einer kurzen politischen Einschätzung dienen, die aber hoffentlich genügend deutlich ist: Eine intensivere Analyse von Social-Media- oder Kurznachrichtendiensten scheint mir nicht nur sinnvoll, sondern sogar geboten – möglichst sogar in Echtzeit. Als Nutzer des von Ihnen erwähnten Kurznachrichtendienstes (warum wird eigentlich im IT-Bereich immer dermaßen offen mit Markennamen hantiert, während man dies – meines Erachtens zu Recht- bei anderen Produktgruppen sofort als Schleichwerbung kritisieren würde??) sehe ich auch nicht, wo das Problem ist: Diese Nachrichten werden ja nun mal mit der Welt geteilt, sind jedenfalls auf keinen Fall geheim oder privat-vertraulich. Die negativ konnotierte Charakterisierung als ‚Überwachung‘ kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Bei social-media-Plattformen ist dies sicherlich differenzierter zu sehen, aber auch hier scheint mir eine Analyse von stark verbreiteten Inhalten nicht per se verwerflich zu sein.
Nun – für mich ist es sehr wohl Überwachung, wenn mich jemand ausspäht bei allem, was ich öffentlich tue. Zumal das ganze nicht bei der Überwachung endet, sondern auch dokumentiert wird – und damit jederzeit auch später wieder abgerufen werden kann.