Werte Leserinnen und Leser,
vieles war in den letzten Tagen über den großen neuen türkischen Sultan Präsidenten Erdogan zu lesen. Wir hatten lange vor den Präsidentschaftswahlen eine ungefähre Ahnung, in welche Richtung Erdogan die Türkei steuert. Die Demokratie war dabei die bequeme Straßenbahn, das ihn zum Ziel brachte, aber nun heißt es „Aussteigen“ – das sind übrigens Erdogans eigene Worte am Beginn seiner Politikerkarriere.
Und nun, nach der Wahl, wurden sogleich wieder die Stimmen erhoben, dass wir Europäer gefälligst unsere eigenen Werte achten sollten und das Ergebnis der demokratischen Wahl respektieren – wie bei allen Wahlen der letzten Jahre, bei denen rechtsstaatlich fragwürdige Kandidaten gewonnen haben.
Nun, wir tun genau dies: Wir halten uns an die Regeln des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Wir haben keine Kavallerie in Gang gesetzt, als Orban zum zweiten Mal die Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze gewann (mit weniger als 50% der Wählerstimmen). Wir haben viele Jahre zugesehen, wie Berlusconi aus Italien einen Selbstbedienungsladen machte. Und wir werden auch keine Konsequenzen ziehen, bloß weil Erdogan aus der Türkei ein muslimisches Kalifat machen wird.
Denn es ist richtig: Demokratie allein schützt nicht vor feindlicher Übernahme. Die Deutschen haben in der Weimarer Republik selbst erlebt, wie kriminelle Parteien in den Städten Bürgerkriege inszenierten und NSDAP und KPD zusammen 1932 mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinen konnten (davon knapp 38% für Hitler).
Was die Demokratie sicher macht, dass sind der freiheitliche Rechtsstaat und die Achtung der Menschenrechte durch die Verfassung. Sie verhindern, dass eine Mehrheitsregierung vergisst, sich um die Minderheiten zu kümmern. Wir erleben zwar auch hier, dass Politiker regelmäßig ihre eigene Klientel bedienen. Die FDP konnte das früher besonders gut, aber auch die CDU und noch mehr die CSU wissen sehr wohl um die Herrschaft der Stammtische. Deshalb kommen alle Gesetzesangleichungen für Schwule vom Bundesverfassungsgericht – aber sie kommen! Gesetze, die Minderheiten benachteiligen, hätten bei uns keine Chance.
Es wird Zeit, den Begriff der Demokratie zu hinterfragen. Sie galt im griechischen Staat als grausame Staatstheorie – weil Mehrheiten einfach über Minderheiten entscheiden konnten und keine Gerechtigkeit herrschte. Heute verstecken sich die Despoten hinter diesem Begriff: „Seht her, wir haben Wahlen abgehalten! Das Volk will uns!“
Aber lupenreine Demokratie ohne Korrektiv kann eben auch Staatsterror sein. Ein Aufschrei ginge durch Deutschland, würde Merkel nach ihrem nächsten Wahlsieg ihren politischen Gegnern drohen, sie hätten „Chaos verbreitet“ und „die Interessen Deutschlands verraten“. Eine Merkel, die Gabriel in der Elefantenrunde donnert: „Sie werden dafür bezahlen!“ und droht: „Ab morgen gibt es vielleicht Leute, die flüchten werden!“ – das ist unvorstellbar. Aber Erdogan hat genau das getan. Von Orban und Putin sind ähnliche Drohungen überliefert.
Wir können derzeit nichts für die Menschen in der Türkei tun. Sie haben sich ihren Mann gewählt, und solange er nicht übergriffig wird, wird man seine Polterei ebenso tolerieren müssen wie die aller anderen Despoten. Auch wenn die CSU nur Populismus betreiben wollte mit ihrer Forderung: ein EU-Beitritt der Türkei ist in weiteste Ferne gerückt.
Denn wir haben mit Ungarns Orban schon genügend Probleme. Der ist schon Teil der EU, hat aber weitgehend unbeachtet die westliche liberale Demokratie in seinem Land für beendet erklärt: „Die liberale Demokratie ist am Ende. Sie garantiert den ungarischen Familien keinen Wohlstand und keinen Schutz der nationalen Interessen mehr. Der ungarische Staat wird sich nicht weiter an liberale Werte halten“.
Orban will jetzt dem Vorbild Russlands, Chinas und der Türkei folgen. Und spätestens dann sollte die EU-Kavallerie reiten – nicht mit Waffen, sondern auf dem Wege der Sanktionen. Nehmt ihm das EU-Fördergeld weg und droht ihm mit Rauswurf! Und lasst ihn und sein Land ziehen, wenn er Ungarn nicht im Sinne der EU-Spielregeln regieren will.
Denn wir halten uns an die Regeln des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Auch wenn wir Despoten und andere Durchgeknallte auf höchsten Posten ertragen müssen.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7