Werte Leserinnen und Leser,
nachdem bei der Bahn jahrelang nur die Weichen im Winter und die Klimaanlagen im Sommer gestreikt haben, ist nun die Spartengewerkschaft GDL am Zug. Tagelang andauernde Streiks verhindern effektiv den Bahnverkehr und zwingen Millionen Pendler und Reisende (und auch die Industrie beim Güterverkehr), sich neue Wege zu suchen. Die beiden Lager scheinen unversöhnlich – während man sich im einen Lager gerne auf das Streikrecht und eine Notlagesituation beruft, möchte das andere Lager am liebsten sofort ein Gesetz zur Tarifeinheit verabschiedet sehen, damit die GDL mit ihren 30.000 Mitgliedern die Macht zugunsten der Konkurrenzveranstaltung EVG verliert, die knapp 200.000 Arbeitnehmer vertritt.
Fakt ist, dass die Arbeitnehmer ein Streikrecht haben und es auch nutzen dürfen. Jedoch ist so ein Streik keine Schwarz-Weiß-Sache. Statt – wie die GDL derzeit – tagelang bundesweit den gesamten Verkehr zu bestreiken, wären auch abgestufte Streiks möglich: regionale Streiks in einzelnen Bahnhöfen oder ein Streik, der nur den Güterverkehr trifft. Dem Arbeitgeber Deutsche Bahn würde das ebenfalls erhebliche Probleme schaffen; es gäbe Verzögerungen im ganzen Netz, und der Güterverkehr brächte kein Geld ein. Für die Bahnreisenden bedeutete so etwas Verspätungen – aber die kennt man, und man kommt wenigstens nach Hause. In jedem Falle wäre das Unmutspotenzial bei den Reisenden kleiner.
Statt dessen nun erhalten wir jedesmal das volle Programm – denn das garantiert die maximale Aufmerksamkeit, und darum geht es dem Chef der GDL, Claus Weselsky. Es kann nicht oft genug betont werden, dass Weselsky die GDL nicht in den Streik geführt hat, weil er Lohnverbesserungen erzielen will – die hat die Bahn zuletzt bereits angeboten. Es geht vor allem darum, der Mitgewerkschaft EVG viele Anhänger abzuwerben und diese dann mit einem eigenen Tarifvertrag zu versorgen. Für einen derart kühnen Plan bedarf es eines großen Egos, und Weselsky scheint an dieser Stelle überaus großzügig ausgestattet zu sein. In den Foren hat er inzwischen den Spitznamen „Napoleon“, was diesem allerdings absolut nicht gerecht wird.
Ein eigener Tarifvertrag, das bedeutet, dass die Deutsche Bahn dann derer zwei hat – einen abgeschlossen von der ECG, einen von der GDL Es ist sonnenklar, dass sich die Bahn auf so etwas nicht einlassen kann: Zwei Tarfiverträge für dieselbe Berufsgruppe würde bedeuten, dass die Mitarbeiter selbst entscheiden können, welcher davon für sie gelten soll – und danach unterschiedlich verdienen, obwohl sie dieselbe Arbeit tun.
Aber genau das ist der Punkt, den Weselsky erreichen will: Er will einen deutlich besseren Tarifvertrag für die Zugbegleiter als die EVG – und hofft, dass diese sich dann in Massen für seinen Abschluss entscheiden. Dann könnte er die Vertretungsmehrheit für die Zugbegleiter erreichen. Und nicht einmal das von Frau Nahles vorbereitete Gesetz, das Gerwerkschaften zu einer Tarifeinheit innerhalb eines Unternehmens zwingen soll, könnte der GDL dann noch schaden.
Es bleibt die Frage, wie lange die Lokführer ihm folgen. Denn das aktuelle Angebot der Bahn ist bereits gut – mit ein wenig Verhandlungsgeschick könnte man auch noch eine Wochenarbeitszeitverkürzung heraushandeln. Warum also Weselskys Egotrip folgen, nur damit der auch noch für andere Berufsgruppen verhandeln darf, die – es sei noch einmal herausgestellt – mit der EVG bereits eine Gewerkschaftsvertretung haben.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7