Flüchtlingsbasar

Werte Leserinnen und Leser,

die türkische Regierung hat in den letzten Jahren ein ganz eigenes Verständnis von Rechtsstaat, Demokratie und Pressefreiheit entwickelt. Im späten Mittelalter soll Ludwig XIV. das einmal mit einem knappen Satz auf den Punkt gebracht haben: „L’etat, c’est moi“. Erdogan hat aus der Geschichte viele falsche Lehren gezogen, aber der Sonnenkönig starb im hohen Alter von 77 Jahren nicht durch Intrigen oder Krieg, sondern an Wundbrand –  wenn auch seine Regierungsform einen späteren Nachfolger den Kopf kostete. So gesehen hat Erdogan noch ein langes Regierungsleben vor sich, denn an Wundbrand stirbt heute niemand mehr.

Aber im Ernst: so sehr ich Erdogans Politik der letzten Jahre verurteile: die türkische Bevölkerung hatte im vergangenen Jahr gleich zweimal die Wahl – und hat der AKP im November 2015 wieder einmal zu einer absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament verholfen. Erdogans Plan, die Türkei in eine Präsidialdemokratie mit ihm als starken Mann umzubauen, war da bereits bekannt, ebenso sein Verhältnis zu politischen Minderheiten, zu Gewalteinsätzen der Polizei und zu den Kurden im Land. Die Türkei ist zudem kein EU-Land (und wird es wohl auch nie) – es ist daher vor allem Sache der Türken, Erdogan zum Sultan zu machen oder ihn daran zu hindern.

Dass die EU nun mit ihm Deals schließt und er sich seine Angebote zur Flüchtlingskrise sehr teuer bezahlen lässt, fällt in den Bereich der Diplomatie. Auch wenn es auf dem Flüchtlingsgipfel offenbar zuging wie auf dem Basar: unsere Außenpolitiker schütteln regelmäßig deutlich schmutzigere Hände. Die Erinnerungen an die letzten Besuche deutscher Politiker in Iran und Saudi-Arabien sind noch sehr frisch.

Erdogan und seine Regierung sind aber auf ganz anderem Gebiet eine Gefahr für Europa. Er hat mit den Russen in Syrien ein riskantes „Spiel“ um einen heißen Krieg eröffnet, und als NATO-Partner (seit 1952) steht ihm Schutz zu, sollte sein Widerpart in Moskau Putin sich dereinst entscheiden, „versehentlich“ Angriffe gegen die Türkei zu fliegen statt gegen Aleppo. Dann stehen wir in Europa tatsächlich vor der Gretchenfrage, wie wir es mit der NATO-Religion halten. Die Innenpolitik mag Sache der Türken sein, aber Erdogans seltsame Sicht auf die Welt geht uns alle an.

Es grüßt herzlich

Ihr JL7

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