Werte Leserinnen und Leser,
der türkische Präsident ist derzeit gemäß der Verfassung der Türkei ein politisches Leichtgewicht. Seine verbrieften Rechte sind klein, denn die Regierung führt der Ministerpräsident. Wenn daher nun ein Erdogan-Höriger den Ministerpräsidenten-Posten übernimmt, kann der türkische Präsident zwar in die Politik eingreifen, aber eben immer noch nur über Hinterzimmer, Mittagessen und Klagen vor Gericht. Auf Erdogans Betreiben laufen derzeit mehr als 2000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung in der Türkei und zwei weitere in Deutschland.
Erdogan hat diese Schwäche natürlich längst begriffen und arbeitet deshalb an dere Umgestaltung der Türkei in eine Präsidialdemokratie. Nach amerikanischem Vorbild möchte er den Präsidenten wählen lassen, der dann die Regierungsgeschäfte leitet und die Macht ausübt. Weniger nach amerikanischem Vorbild wird er aber die Kontrollfunktionen des Parlaments weitgehend außer Kraft setzen. Was Erdogan dann sagt, ist praktisch Gesetz. Man könnte diese Staatsform auch als „Präsidialdiktatur“ bezeichnen.
Sehen wir die Dinge einmal realistisch: sollte das türkische Parlament heute (Freitag, 20. Mai) der Aufforderung Erdogans folgen und die Immunität für 132 Abgeordnete aufheben, dann stehen seine Chancen zur Neuerrichtung eines türkischen Sultanats nicht schlecht. Denn dann werden Nachwahlen fällig, und seine Partei, die AKP, könnte auf diese Weise die wenigen fehlenden Sitze zur verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit hinzugewinnen. Dann wäre Erdogan praktisch Alleinherrscher.
Was würde sich ändern? Es besteht kaum die Gefahr, dass die Türkei ein islamischer oder gar islamistischer Staat wird. Dazu fehlt der Rückhalt in der Bevölkerung, und auch die AKP ist zu korrupt dafür. Die Türkei würde jedoch einen Personenkult um Erdogan erleben. Und wie wir es aus einer Vielzahl von historischen Größen und weniger Großen kennen, wird sich auch Erdogan im Alter zunehmend erratisch verhalten. Unser Außenminister würde ihm vermutlich weiterhin die Hand schütteln und hierzulange bei seiner Rückkehr ausrufen: „Peace in our time…“.
Weil Erdogan aber bereits jetzt alle Kritiker seiner Politik beseitigt und damit als verfassungsmäßiger Sultanatspräsidentendiktator auch nicht aufhören wird, wird die Türkei nach seinem unvermeidbaren Abgang in eine echte Staatskrise geraten. Wiederum aus der Geschichte kennen wir das Machtvakuum, das entsteht, wenn Alleinherrscher von der Bühne abtreten – dann wird mit allen Mitteln um die Macht gekämpft, und dabei gewinnen gewöhnlich die mit der geringsten Moral. Dann steht die Türkei dort, wo Syrien vor drei Jahren stand – und die weitere Entwicklung dürfte uns allen geläufig sein.
Da dieser Verlauf der Geschichte aber so vorhersehbar ist, ist es jetzt an der Zeit, alles in unserer Macht stehende zu tun, um die Türkei vor diesem Schicksal zu bewahren. Die EU sollte als erstes den Flüchtlingsdeal mit Erdogan kündigen und ihre Probleme mit den syrischen Flüchtlingen selbst lösen. Dann fiele der Hebel weg, den Erdogan derzeit zur Erpressung der EU nutzt, und man könnte weit weniger diplomatisch auftreten, als es Merkel und Steinmeier jetzt tun.
Erdogan mag machtversessen und störrisch sein, aber er ist nicht dumm. Wenn es ihm Vorteile bringt, die Macht besser zu verteilen, wird er entsprechend handeln. Ob das auch noch in zehn Jahren mit einem greisen Erdogan oder gar nach der Machtübernahme durch einen unerfahrenen Emporkömmling gilt, ist äußerst fragwürdig. Noch ist es nicht zu spät. Eines ist aber offensichtlich: mit der diplomatischen Allzweckantwort „Nichteinmischung“ kommen wir nicht weiter.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7