Werte Leserinnen und Leser,
Von Winston Churchill ist der folgende Satz überliefert:
Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Ich stimme ihm insoweit zu, dass ich ebenfalls keine bessere Regierungsform kenne. In den meisten demokratisch regierten Ländern haben wir die Regierungsform der „Parlamentarischen Demokratie“, also einer Repräsentierung des Volkes durch gewählte Abgeordnete. Diese Volksvertreter sind während ihrer Amtszeit nur ihrem Gewissen unterworfen und dürfen (theoretisch) frei entscheiden. Sie sind zumeist auch regelmäßig in ihren Wahlkreisen anzutreffen und stehen (wiederum theoretisch) jedermann für ein Gespräch zur Verfügung.
Tatsächlich kann man solche Gespräche führen – ich hatte mehrfach die Gelegenheit dazu und auch regelmäßig das Gefühl, dass mir zugehört würde. Warum aber rufen dann die Alternativen vom rechten Rand ständig nach mehr von Volkes Stimme, die sie im Bundestag angeblich nicht repräsentiert sehen? Volksbegehren stehen regelmäßig auf der Liste der Maßnahmen, die man als erste einführen würde, so man denn jemals an die Macht gelänge.
Lassen Sie mich einen kurzen Ausflug in die Geschichte machen. Wir berufen uns mit der Demokratie gerne auf die alten Griechen, die die „Herrschaft des Staatsvolks“ (so lautet die Übersetzung des Wortes δημοκρατία) als erste etabliert hatten. Die Verantwortlichen wurden damals aber auf andere Weise bestimmt als heute: sie wurden ausgelost. Es konnte jeden treffen, Berufspolitiker waren noch nicht erfunden.
Nun wird man kaum die wenigen Alten Griechen mit modernen Demokratien vergleichen können, in denen 80 Millionen Bürger regiert werden wollen bzw. müssen. Man stelle sich das Chaos vor, wenn die Abgeordneten aus den 60 Millionen Wahlberechtigten ausgelost würden und damit nach den Wahlen jeweils wieder bei Null anfangen müssten. Es ist durchaus sinnvoll, bei Wahlen eine Kontinuität zu garantieren.
Ein Losverfahren hat aber durchaus eine charmante Seite, wenn man es als Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie nutzt. Und so ganz neu ist die Idee – das muss ich hier zugeben – natürlich auch nicht. In Irland nutzt man das Losverfahren, um die Bürger bei grundsätzlichen Entscheidungen einzubinden. Ein Beispiel hierfür ist die vielbeachtete Entscheidung der Bürger Irlands, die gleichgeschlechtliche Ehe zuzulassen – ein Thema, das Merkel ein schlechtes Bauchgefühl verleiht, aber dennoch nach der nächsten Wahl auch bei uns wieder diskutiert werden wird.
Was haben die Irländer nun getan? Dort haben 99 Vertreter entschieden, die Verfassung zu ändern, damit man die gleichgeschlechtliche Ehe einführen konnte. Von diesen 99 waren nur 34 Abgeordnete. Die anderen 65 waren irische Bürger, die durchs Losverfahren bestimmt wurden. Diese 65 Bürger waren bunt zusammengewürfelt, wie man sich das bei einem Losverfahren erhoffen darf. Sie hatten anfangs eine Meinung, aber größtenteils keine Ahnung. Sie haben abseits der parteipolitischen Linien diskutiert, hörten sich unterschiedliche Positionen von Befürworten und Gegnern an und entschieden letztlich zusammen mit den Volksvertretern. Das Ergebnis ist bekannt.
Es gibt auch in Deutschland eine Menge Fragen, die nicht parteipolitisch entschieden werden sollten. Unter Einbeziehung der Bürger kann man neben der gleichgeschlechtlichen Ehe (die Bevölkerung stimmt hier jetzt bereits überwiegend zu) beispielsweise auch Fragen zur Stammzellenforschung, Fragen zur Ernährung (genveränderte Pflanzen, Massentierhaltung), Sterbehilfe, staatliche Überwachung und soziale Absicherung diskutieren*. Auch bei uns hätten die (vielleicht 200) Bürger zunächst zwar eine Meinung, aber keine Ahnung. Sie würden im Laufe der Zeit zu Spezialisten heranreifen und eine Entscheidung treffen, die Abgeordnete und Volk gleichermaßen tragen.
Ist ein Losverfahren also wirklich so absurd, wie es auf den ersten Blick ausschaut? Wir sollten bedenken, das wir im Bereich des Justizwesens seit vielen Jahren ein Losverfahren zur Bestimmung der Schöffenrichter einsetzen. Dieses Verfahren bestimmt zwei Laien, die einem Berufsrichter beigeordnet werden. In der Sache dürfen diese beiden den Berufsrichter bei Entscheidungen (im Rahmen der Gesetze) überstimmen. Wenn wir also Vertrauen in unsere Strafgerichtsbarkeit setzen und ein solches Verfahren zulassen – warum dann nicht auch in der Gesetzgebung?
Es grüßt herzlich
Ihr JL7
*Derzeit werden viele dieser Fragen in einem von der Regierung und vom Bundestag benannten Ethikrat diskutiert. Dort sitzen überproportional viele Kirchenvertreter mit dogmatisch ausgerichteten Ansichten sowie spezialisierte Wissenschaftler. Der Rat nennt sich unabhängig, liefert aber de facto regelmäßig konservative Ergebnisse ab.
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