Wie ich auf facebook einen intoleranten und spaßbefreiten Minderwertigkeitskomplex auslebte (Update)

Werte Leserinnen und Leser,

Kennen Sie das? Sie haben ein berechtigtes Anliegen und erhalten plötzlich Gegenwind von einer Seite, von der Sie es nie erwartet hätten? Ich hatte gestern ein solches Erlebnis – auf facebook. Ich halte mich nicht sehr häufig dort auf und trage auch nicht allzu viel bei. Gestrern entschied ich mich anders. Da hat das Zeit-Magazin (eine Beilage der  Wochenzeitung ZEIT, auch online verfügbar) einen offenbar amüsant gemeinten Beitrag gepostet, in dem die Problematik der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen anhand einiger kurzer Sätze beleuchtet wurde, etwa diesen:

Vor dem Fenster sah sie den geliebten Rasen.
Vor dem Fenster sah sie den Geliebten rasen.

Ein wenig gestelzt, daher nicht umwerfend witzig, aber ok. Einige Zeilen tiefer fand ich den folgenden Vergleich:

Warme Speisen im Keller
Warme speisen im Keller

Falls Sie nicht wissen sollten, wo hier der Witz ist – da geht es Ihnen wie vermutlich inzwischen der Hälfte der Bevölkerung. „Warme“ im zweiten Kontext meint „warme Brüder“, ein abwertender Ausdruck für Schwule, gebräuchlich bis in die 90er Jahre.

Nun – ich wusste, was der Ausdruck bedeutete, und ich habe darauf einen Kommentar geschrieben – vorrangig deshalb, weil dieser billige Witz einfach nicht in die ZEIT passt:

Schön – aber musste der Satz mit den „Warmen“ wirklich sein? Das war vielleicht in den 60ern lustig. Heute ist es eine homophobe Beleidigung.

Ich muss zugeben, ich habe nicht im entferntesten mit den Reaktionen gerechnet, die ich damit auslöste. Es begann relativ harmlos. Ich zitiere die Kommentare ohne die Namen der Schreiber, kennzeichne jeweils nur, ob es sich um Frauen (F) oder Männer (M) handelt:

F1: Oder ohne deinen Kommentar hätten Leute, die nach den 60ern geboren sind, gar nicht an diese Bedeutung gedacht?

M1: Na und! Ist das soooo anstössig? Immer diese Rosinenpickerei.

M2: Manchmal ist „politisch“ Korrektsein zum Kotzen – verdirbt einem ganz simplen unbefangenen Spaß.

M2 erhielt 7 Likes für diesen Beitrag. Weiter geht’s.

F2: Ich bin weder homophob (nein, ich hatte während meines Studiums auch schwule Freunde und mit einem zusammen gewohnt )noch habe ich etwas gegen Leute einer anderen Herkunft oder Religion und mich nervt es auch ziemlich, dass man mittlerweile jedes Wort und jeden Satz dreimal überdenken muss, damit sich ja niemand auf dem Schlips getreten fühlt.

Dies ist eine Abwandlung des „Ich bin nicht …., aber„, indem sie ein schönes „und“ zur Verbindung ihrer Kritik nutzte. Selbstentschuldigungen wie „ich bin nicht homophob“ haben allerdings regelmäßig etwas Fragwürdiges. Ich bezeichnete den Satz daraufhin als „üblen Herrenwitz“ und erhielt die folgende Antwort:

F3: Dann lach doch über den „üblen “ Herrenwitz. Mein Gott was für Aufstand um nichts.

Von F3 werden wir später nochmal hören. Ein paar Stunden später kam diese Antwort:

M3: Du bist zu sensibel für die Welt. Am besten Du verkaufst Dein Handy und belästigst die Menschheit nicht mit Deinen komischen Meinungen.

M4: Es gibt bestimmt einige Schwule, die das sehr witzig finden!

F4; Was für Menschen werden nicht beleidigt??? Mein Gott das ist ein Vergleich, kein Witz!

Ich habe mein Handy natürlich bei mir behalten, meine komischen Meinungen hingegen nicht. Stattdessen antwortete ich:

JL7: Man hält den Schwulen gerne vor, dass sie ja jetzt gleichberechtigt wären und deshalb mal still sein sollten. Gerade die letzten Kommentare sind allerdings Beweis genug, dass da noch viel zu tun ist. Wer Kritik an Schwulenwitzen für eine „komische Meinung“ hält oder sie damit abtut, dass andere doch auch beleidigt würden oder gar den Witz an sich verteidigt, der ist offenbar noch sehr jung oder noch nie in einer echten Minderheit gewesen. Und ganz ehrlich, ich wünsche Euch, dass Ihr nie in eine solche Situation geratet.

Wenig später ging es im selben Stile weiter mit der Dame, die sich zuvor selbst entschuldet hatte:

F2: Ich finde die Reaktion nach wie vor übertrieben. Und wie andere schon meinten, es gibt ständig Situationen, wo sich irgendwer benachteiligt oder beleidigt fühlen könnte. Die Schwulen (oder soll ich lieber schreiben“homosexuelle Männer „?), die ich kenne waren wesentlich lockerer und vor allem haben sie ihre Homosexualität nicht permanent betont.

Klasse, nun lag ich also in der Schublade der Schwulen, die immer und überall ihre Homosexualität betonen. Einmal ganz abgesehen davon, dass uns mit dem Erstarken der rechten Szene eine gewaltige Gegnerschaft erwachsen ist, gegenüber der man wahrscheinlich wirklich ständig betonen muss, einer Minderheit anzugehören, damit die nach wie vor Anständigen einen schützen – Heterosexuelle können so drollig sein, wenn sie von ihren schwulen Freunden schreiben: die sind so locker! Klar – von Coming Out, Benachteiligung am Arbeitsplatz und Mobbing erzählen die auch nicht, wenn man am Abend Party macht.

M5: tolerant ist, wer über alles und jeden lachen kann und nicht bei jedem furz gleich mit mimimi-hochwichtig-erklärungen daherkommt. wenn du irgendjemanden bei witzen ausklammerst bist du intolerant. haben schwule nicht das gleiche recht, dass man über sie witze macht wie z. b. jäger, fussballer oder eben mimimi-erklärungsnotständler? denk mal drüber nach

Das war nun wirklich klasse. Habe ich wirklich das Recht, dass man über mich Witze macht? Ich muss zugeben, so hatte ich das bis jetzt noch nie gesehen. Aber lassen wir den Blödsinn, der hier geschrieben wurde, mal außer Acht. Man lese bitte noch einmal meinen allerersten Kommentar: „mimimi-hochwichtig-erklärungen“? Wie würde M5 wohl reagieren, wenn auf facebook tstächlich historische Fakten ausgebreitet würden?

M6: Also ich kenne Schwule, die sehr gute Schwulewitze erzählen, ebenso hab ich schon von einem Blinden einen guten Blindenwitz erzählt bekommen.
Diskriminierung ist nicht dadurch bestimmt, dass man Witze über jemanden macht und Eigenheiten aufs Korn nimmt, sondern wie man sich ihm gegenüber in ganz normalen Situationen benimmt.

Ich kenne auch Schwule, die gute Schwulenwitze erzählen können, beispielsweise mich selbst. Aber – und das schrieb ich als Antwort – es macht einen Riesenunterschied, ob ich den Witz erzähle oder ein Nicht-Schwuler. Auch als Nicht-Blinder sollte man in die Öffentlichkeit hinein besser keine Blindenwitze erzählen. Und schon gar nicht sollte man das als Nichtbetroffener als Erlaubnis ansehen, selber solche Witze zu erzählen. Denn lieber M6, Diskriminierung ist eben auch genau dadurch bestimmt, dass man Witze über andere macht.

Dann kehrte F3 zurück.

F3: Du hast Minderwertigkeitskomplexe. Wenn in meinem Beisein Witze oder Anzüglichkeiten über die Körpergrösse gemacht werden hau ich mit in die Kerbe, obwohl ich das „tiefergelegte “ Model bin.

Ich liebe unpassende Vergleiche, weil man sich so schön an ihnen abarbeiten kann. Sind Menschen für ihre Körpergröße jemals ins Gefängnis gekommen? Oder auf der Straße gewalttätig bedroht oder gar verprügelt worden? Oder an Baukränen aufgehängt? F3 wusste auf meine Frage eine Antwort.

F3: Ja sie sind in T4 Busse gekommen.Waren leider auch Patienten von einem Dr. Mengele.

Ich bitte festzuhalten, dass nicht ich die Nazikeule gezogen habe. Ich vermeide solche Vergleiche, weil sie immer – immer – einen Haken haben. Hier liegt er da, dass meine drei Aufzählungen noch heute Gültigkeit haben, die von F3 jedoch allein im verbrecherischen Nazi-Deutschland zutrafen.

M7: also darf man nur Witze über eine Minderheit machen, wenn man ihr auch angehört? Blinde dürfen Blindenwitz erzählen, Nichtblinde aber nicht? Was ist mit Einäugigen? Schwulenwitze thematisieren oft das Klischee von besonders übertriebenen femininen Verhalten bei Männern. Dürfen Schwule, die dem Klischee nicht entsprechen solche Witze erzählen?
Bin ich jetzt schon politisch unkorrekt wenn ich als heterosexueller schwul sage und nicht homosexuell?
Wie sagte Harald Schmidt mal: „Jede Minderheit hat das Recht von mir beleidigt zu werden.“

M7 garniert seine undurchdachte Aufzählung mit einem Harald-Schmidt-Zitat. Nun ist der garantiert eine Ikone der Beleidigung von Minderheiten, wenn man an seine Polenwitze und die dicken Kinder von Landau denkt. Was M7 übersieht: man darf jederzeit jeden Witz erzählen. In den meisten Situationen wird das auch ok sein, selbst wenn es der Witz nicht ist. Aber in der Öffentlichkeit – mit einer unbekannten Zahl an Lesern – sollte man doch sehr vorsichtig sein, wenn man als Nicht-Schwuler deren übertriebenen feminines Verhalten karikiert – oder sie als „warm“ bezeichnet.

Ich fragte dann in einem weiteren Kommentar, was an meinem Kommentar wohl der Trigger für die anderen Kommentatoren war, mich intolerant und spaßbefreit zu nennen? Mir eine „komische Meinung„, einen Minderwertigkeitskomplex und ein Aufmerksamkeitsproblem zu unterstellen? Ich nahm an, das könne doch wohl nicht alles durch lediglich 2,5 Zeilen Text ausgelöst sein? M8 belehrte mich eines besseren:

M8: Doch.
Mittlerweile haben wir 2017, und wir sollten das finstere Mittelalter so langsam hinter uns haben. Es ist den Leuten scheissegal, ob du homo bist oder nicht. Ausnahmen bestätigen die Regel.  Es wäre sogar niemandem aufgefallen, dass du es bist, bevor du dich mit zitternder Unterlippe und empört erhobenem Zeigefinger zu Wort meldetest. So ähnlich wie fundamentalistische Feministen und militante Veganer, die zu jeder Gelegenheit, und sei sie auch noch so marginal, ihren überflüssigen glutenfreien Senf hinzugeben müssen, nur um ihr Aufmerksamkeitsdefizit zu befriedigen.
[…]
Ich hab selbst schwule Freunde, und nicht einer von denen hat einen (‚tschuldigung) Stock im Arsch. Das sind die lockersten, angenehmsten, und lustigsten Kameraden, die man sich wünschen kann.

M8’s Beitrag zeigt, dass wir offenbar das „finstre Mittelalter“ eben noch nicht hinter uns haben. Ich riet ihm, einmal seine schwulen lockeren angenehmen Freunde zu fragen, wie sie das wirklich sehen mit dem „scheissegal, ob du homo bist“ – ich vermute, er wird überrascht sein. Aber einmalig: das Bild, das er sich von mir gemacht hast – mit zitternder Unterlippe und Stock im Arsch…

Und als hätte es die ganze Latte an Kommentaren und meine Entgegnungen nicht gegeben, schreibt am Schluss nochmal jemand zur Verteidigung der Bezeichnung „Warmer“.

M9: die schwulen die ich kenne (linzer szene) lachen über deine meinungen und äußerungen…aber es jeden einzelnen alles recht machen ist halt schwer….im übrigen hat da sicher nicht jemand extra darüber nachgedacht wie er schwule beleidigen könnte. hier geht es um den wortwitz und nicht um beleidigung der warmen…ja ich sage warme oder ist das auch eine beleidigung für dich?

Erst einmal fehlen einem dann die Worte. Denn Linz liegt in Österreich, und dort ist die Gleichstellung von Schwulen beileibe nicht auf dem Niveau, das wir hier in Berlins Zentrum vorfinden. Da muss man sich also von seinen Freunden als „Warmer“ bezeichnen lassen und das auch noch gut finden – und über jene lachen, die Homophobie benennen, statt sie hinzunehmen? Na, ich weiß nicht, ob er da nicht doch ein falsches Bild seiner Freunde hat. Falls es aber stimmt – sollen sie lachen. Man kann ihnen nur wünschen, dass die nächste österreichische Regierung nicht FPÖ-geführt ist. das wäre dann für sie nicht mehr so lustig.

Eines ist klar: ich hätte das ganze auch sehr klein halten können, indem ich einfach keine weiteren Antworten verfasst hätte. Aber ich muss zugeben, es juckte mich, dem Pack zu widerstehen. Und es ist ja nicht so, dass es nur Widerreden gegeben hat.

F4: Respekt, dass Du Dich dieser Diskussion hier stellst. Ich dachte auch, dass Homosexualität heutzutage in unserer modernen Gesellschaft kein großes Thema mehr ist, aber seit fünf Minuten bin ich eines Besseren belehrt. Wenn Homosexuelle dafür, dass sie auf solche Formulierungen hinweisen, in den Kommentaren schon derart heruntergeputzt werden, möchte ich ja nicht wissen, wie „tolerant“ Leute reagieren, wenn jemand sich wirklich auffällig verhält. Das Recht, Witze zu machen, wird verteidigt, gleichzeitig wird Leuten untersagt, die Witze geschmacklos zu finden – unglaublich!

M10: […] „Warmer Bruder“ ist eine Formulierung die tatsächlich antiquiert klingt, und der Satz ist sehr konstruiert. Ich finde ihn sinnentfremdet. Der verantwortliche Redakteur hätte ihn einfach weglassen koennen, weil ohnehin zu viele Beispiele aufgezeigt worden sind. Eines aber ist der Satz in keinem Fall – witzig. Und wenn sich jemand beleidigt fühlt ist das zu respektieren und nicht mit dümmlichen Kommentaren zu unterfüttern. Etwas mehr Diskussionskultur täte da ganz gut….

Da hat er recht. Diskussionskultur ist leider zu einem raren Gut geworden. Und beim nächsten Mal geht es hier wieder um Politik im allgemeinen. Nicht, dass nachher (außer F2) noch mehr Leute glauben, ich würde Homosexualität permanent betonen

Es grüßt herzlich,

Ihr JL7

Update: Ich hatte zeitgleich auch die ZEIT-Redaktion informiert und um Löschung des Artikels oder zumindest der beiden inkriminierten Zeilen gebeten. Ich erhielt folgende Antwort vom verantwortlichen Redakteur:

Lieber Herr Brennecke,

ja, da haben Sie leider einen Punkt. Ich habe dieses Bild auf unserer Seite geteilt und nicht weiter über die Bedeutung dieses Vergleichs nachgedacht. Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mit diesem Repost definitiv nicht mit homophoben Klischees spielen. Ich bespreche das einmal in der Redaktion und melde mich dann, wie wir verfahren.

Viele Grüße,

Zwei Tage später meldete sich der Redakteur erneut; man hatte inzwischen den gesamten Eintrag samt Kommentaren von der facebook-Seite entfernt.

Danke.

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