Werte Leserinnen und Leser,
ich verbrachte in den letzten Monaten viel Zeit damit, die verschiedenen Lager in der Diskussion um das sich wandelnde Weltklima kennenzulernen. Erstaunlicherweise wird dabei meist ohne tiefe Kenntnisse der ablaufenden Prozesse diskutiert, dafür hingegen mit viel Bauchgefühl. Es kristallisieren sich dabei insbesondere drei kritische Gruppen heraus:
- Die „Klimaleugner“, gemeint sind natürlich „Klimawandelleugner“, glauben, dass das Wetter sich ändern unabhängig davon, was der Mensch tut. Da werden dann pseudophysikalische Prozesse aufgefahren, beispielsweise die Zahl der Sonnenflecken. Oder aber es werden Messungen einzelner Stationen in den USA zitiert – dort gibt es tatsächlich einige, die über die Jahre fallende Temperaturen aufweisen. Insgesamt dienen alle Argumente aber zur Erklärung, dass der Mensch einen eher geringen Einfluss auf das Klima habe – und natürlich der Entschuldigung, so weiterzumachen wie bisher. Schukd sind hier sowieso die anderen (China und Indien).
- Die Klimawirtschafter sind sich bewusst, dass der Mensch nicht so ganz unschuldig sei, aber erstens alles schon nicht so schlimm werde, weil man ja gar nicht genau weiß, ob nun 1,5° oder 2° oder vielleicht erst 4° zum nicht umkehrbaren Kippen des Weltklimas führen werden. Zudem müssen alle Maßnahmen auch zu unserer Weltordnung passen – marktkonforme Demokratie nannte Frau Merkel diese Weltordnung einmal. Also nicht zuviel und vor allem nicht zu schnell, damit die nächsten 20 Jahre noch alles so rund läuft wie jetzt. Sie sind meistens ältere Semester (zumindest aber innerlich gereift wie Philip Amthor) – das erklärt die Auswahl des Zeitintervalls für ein „Weiter so“.
- Die Klimafreunde scheinen harmlos, sind aber die krassesten von allen. Ihnen ist egal, ob der Mensch nun den Klimawandel verursacht, oder die „Erde den Menschen satt“ hat, wie es Peter Schilling 1983 einmal dahersang. Ihr Credo ist „Kommt damit klar“, was in deren Vorstellung in Deutschland wohl auf einen verstärkten Ausbau Niedersachsens zur neuen mediterranen Zone hinausläuft (auch wenn man dank steigender Meeresspiegel noch nicht weiß, wo genau der neue Strand verlaufen wird). Hamburg wird einfach zur Unterwasserstadt und damit zur neuen Top-Sehenswürdigkeit. Und dank dem tropischen Klima brauchen wir auch keine unreifen Bananen oder Orangen mehr importieren, sondern züchten sie einfach im Garten selbst.
Alle drei Szenarien entstammen derselben konservativen Denke – die übrigens einen Missverständnis des Wortes „konservativ“, also „bewahrend“ entspringt, indem man es lediglich auf die Wirtschaft einengt. Die Fakten sind aber andere:
- Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die CO2-Menge in der Luft von 280 ppm auf heute 415 ppm gestiegen. Der einzige Grund hierfür ist die industrielle Gesellschaft und ihr Verbrauch an fossilen Brennstoffen. Wir haben binnen 150 Jahren das verpulvert, was in Millionen von Jahren als Sonnenenrgie gespeichert wurde.
- Die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, wann genau ein „Kipp-Punkt“ in Bezug auf Temperaturerhöhungen erreicht ist – also ein Punkt, an dem eine Situation unumkehrbar wird und sich selbst verstärkt. Solch ein Kipp-Punkt ist beispielsweise das Erliegen des Golfstroms durch das Einfließen geschmolzenen Gletscher-Süßwassers. Sollte dieser Fall eintreten, wird es in Europa kalt – und nicht wärmer. Zum Vergleich: New York (ohne Golfstrom und mit saukalten Wintern) liegt etwa auf derselben geograhischen Breite wie Paris.
- Deutschland hat nur etwa 2% Anteil am weltweit durch Menschen ausgestoßenes CO2. Allerdings stellt Deutschland nur etwa 1% der Weltbevölkerung und lebt damit offensichtlich auf Kosten anderer. Eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 50% brächte uns lediglich auf das mittlere Weltniveau.
- Gern kolportiert wird auch die Sache mit der Überbevölkerung: wenn sich die Menscheit Avengers-End-Game-like halbierte, wären wir alle Probleme los. Man übersieht dabei allerdings, dass die damit gern gemeinte Hälfte in Afrika und Indien und China gar nicht für unsere Probleme verantwortlich ist, sondern jene 10%, die ein fürstliches Leben westlichen Stils auf Kosten anderer führen – also wir. Wenn man also schon eine Reduktion der Bevölkerung fordert, muss man bei uns anfangen – also keine weiteren Kinder zu zeugen in den Staaten der westlichen Welt.
Schaut man sich nun einmal unseren jährlichen Energiebedarf an, dann liegt der Anteil der erneuerbaren Energiequellen beim Strom bei etwa 38%, bei Wärme bei etwa 14% und in der Mobilität bei knappen 6% – der Rest wird gewonnen aus fossilen Brennstoffen und Atomenergie. Allen Beteuerungen unserer Politiker zum Trotz werden wir nach meiner Einschätzung weder 2030 noch 2050 einen Stand erreicht haben, nach dem mehr als 50% oder sogar unser gesamter Energiebedarf aus erneuerbaren Energiequellen stammt – den Fall eines Atomkriegs und einer postatomaren Welt mit nur einer Handvoll Überlebender einmal ausgeschlossen. Was also bleibt?
Wenn wir es Ernst meinen mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe in den Bereichen Strom, Wärme und Mobilität (man bedenke, dass Öl auch in der Industrie zur Produktion von Kunststoffen aller Art unverzichtbar ist), dann muss ich – so weh mir das tut – der Forderung der konservativen CDU-Splittergruppe „Werte Union“ Recht geben, die gerade heute eine Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke gefordert hat.
Ja, Atomstrom ist natürlich alles andere als sauber. Und wir müssen den Dreck viele Jahrtausende lang sicher aufbewahren – viel länger, als unsere ältesten Aufzeichnungen in die Vergangenheit reichen. Aber wenn unsere Wahl zwischen einer letzten großen Party für 30 Jahre und danach einer globalen Katastrophe einerseits und einer geordneten Nutzung und einem danach folgenden Ausstieg aus der Kernenergie für vielleicht 50 Jahre und einer für lange Zeit relativ sauberen, lebenswerten Erde andererseits besteht, bin ich bereit, diese fette Kröte zu schlucken.
Auch die Grünen werden um diese Diskussion nicht herumkommen. Dass Braunkohle keine Zukunft haben darf, wissen wir alle – auch die 20.000 Menschen in der Lausitz, die jetzt noch in der Braunkohlegewinnung arbeiten. Gleiches gilt für alle fossilen Brennstoffe, sofern wir damit nichts besseres anfangen, als sie einfach zu verfeuern für ein bisschen Strom, Wärme und Mobilität. Aber Windkraft und Solarenergie werden unseren Bedarf erst einmal nicht decken.
Und Fukushima? Tschernobyl? Alles vergessen? Nein, bestimmt nicht. Nur glaube ich tatsächlich, dass uns von den deutschen AKWs im internationalen Vergleich nun wirklich die geringste Gefahr droht. Da schauen wir einmal nach Frankreich oder Belgien – und sollten dafür sorgen, dass auch dort Strom aus Atomkraft sicherer wird.
Trotzdem werden sich die Bürger in den westlichen Staaten auch finanziell mit dem Klima befassen müssen. Ich halte eine kostenneutrale CO2-Steuer für ein wirksames Instrument – wobei „kostenneutral“ meint dass jene, die weniger CO2 als der Durchschnitt erzeugen, von dieser Steuer profitieren, während die Großerzeuger mehr bezahlen müssen. Das betrifft schon allein wegen des Konsums alle Besserverdienenden – während jene, die wenige haben und sich wenig leisten, hier noch ein bisschen gewinnen können. Das Argument, eine CO2-Steuer belaste nur die Armen, stammt aus dem neoliberalen Kapitalismusbaukasten. Es ist schlicht Unsinn – sofern man es mit der Steuer richtig angeht.
Und natürlich muss es am Ende heißen: Verbraucht weniger Energie! Jeder kann schon einmal damit anfangen, indem er in diesem Jahr zur Urlaubszeit auf den Flug in die Ferne verzichtet.
Es grüßt herzlich,
Ihr JL7