Werte Leserinnen und Leser,
die Wahl Trumps und der Brexit – beides Ereignisse, gegen die ich gewettet hätte – haben mich eine Weile lang meiner Stimme beraubt. Man kann nicht satirisch-ironisch schreiben, wenn die Wirklichkeit überhaupt gar nicht mehr zum Lachen ist. Aber es kommt die Zeit, sich mit der Realität zu arrangieren.
Inzwischen ist der Brexit „done“, es geht nur noch um Verträge, die keine Seite wirklich will. Und Trump steht zur Wiederwahl, aber offenbar sind seine Chancen diesmal nicht mehr so gut wie 2016. Daass ausgerechnet jene, denen die Bibel und die zehn Gebote heilig sind, nach wie vor einem Lügner und Betrüger hinterherlaufen, scheint eher eine Bestätigung, dass das Christentum es nie wirklich ernst meinte mit dem eigenen Anspruch, ein gottgefälliges Leben zu führen. Und da brauchen wir jetzt nicht über sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu sprechen, die bei Pastoren, Pfarrern und Bischöfen zu häufig anzutreffen war, um sie noch als „Einzelfall“ darzustellen.
„Einzelfall“ – das ist so ein Wort, über das noch zu schreiben wäre. Einzelfälle sind immer jene Situationen, die nicht vorkommen sollen, aber es dann doch tun. Rechtsextreme Polizisten sind beispielsweise Einzefälle, Rassismus bei der Polizei sowieso und ungerechtfertigte Polizeigewalt gegen Bürger schon per definitionem. Keine Einzelfälle hingegen sind immer jene, die nicht ins eigene Weltbild passen, denen man aber schon immer mal eins auswischen wollte. Wobei ich hier nicht die Polizei meine, sondern ganz allgemein argumentiere. Das, was heuer in Stuttgart passiert ist, ist beispielsweise im Blicke dieser Leute kein „Einzelfall“, sondern ein Beispiel für die verrohte, unerzogene Jugend, die nur Nintendo spielt und saufen kann und Drogen nimmt. In dieser und anderer Form zu lesen in den Foren der FAZ und inzwischen auch in der Zeit – der moralische Konservativismus der 60er ist wieder auf dem Vormarsch!
Zum Einzelfall gehört als Gegenstück der „Generalverdacht“. Wenn man selbst als Gruppe einer latenten unangenehmen Eigenschaft bezichtigt wird, ruft man „Generalverdacht geht gar nicht!“. Möchte man hingegen andere unter Generalverdacht stellen, ruft man beispielsweise nach der Vorratsdatenspeicherung. Oder man ruft, wie der deutsche Landdkreistag, nach einer Corona-App mit zentraler Speicherung aller persönlichen Daten samt der GPS-genauen Bewegungsdaten (die zum Glück in dieser Form nicht umgesetzt wurde). Oder man ruft „Corona-Leugner!“, sobald jemand eine der aktuellen Maßnahmen infrage stellt. Dabei ist dieses Feld durch echte Idioten bereits gut besetzt – und das sind nun leider auch keine Einzelfälle mehr.
Soviel zum Wiedereinstieg. Es grüßt herzlich
JL7