Werte Leserinnen und Leser,
die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat ein neues Wahlrecht in ein Gesetz gegossen. In den langen Jahren der Bundesrepublik war es Usus, Gesetze zum Wahlrecht von einer breiten, parteiübergreifenden Mehrheit im Parlement bestätigen zu lassen. Eine solche Mehrheit ist beim aktuellen Wahlgesetz nicht mehr zu erwarten. Warum? Und wie funktioniert es?
Ein kleiner Exkurs zum aktuellen Wahlrecht
Wir haben bei jeeder Bundestagswahl zwei Stimmen: mit der Erststimme bestimmen wir den Direktkandidaten (insgesamt 299) und mit der Zweitstimme den Anteil, den die von uns gewählte Partei an der Gesamtzahl von Abgeordneten haben kann. Nominal sind das 598. Nur die Zweitstimme ist daher für das Ergebnis der Wahl und die Frage, wer mit wem regiert, relevant.
Fangen wir einmal mit dem Größenwachstum des Bundestages an. Dazu muss man wissen, dass wir zwar bundesweit Parteien wählen, diese aber mit Landeslisten antreten. Der gute Grund hierfür ist, dass innerhalb jeder Partei jedes Bundesland eine Anzahl von Vertretern ins Parlament entsenden soll. Einerseits geschieht dies durch die 299 Direktkandidaten, jene Bewerber, die über die Erststimme gewählt werden und dann als Sieger angesehen werden, wenn sie die einfache Mehrheit erringen. Die kann weit entfernt von der absoluten mehrheit, also 50%+, entfernt sein. Bei der letzten Bundestagswahl (BTW) kam der CDU-Kandidat im Wahlkeis Dresden II auf gerade einmal 18,6% – und gewann mit nur zehntelprozenten vor dem Zweitplatzierten.
Die anderen 299 Mitglieder des Bundestages werden über Landeslisten bestimmt Und da fängt das Problem an: Gewinnen für eine Partei mehr Direktkandidaten ihren Wahlkreis, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, dürfen derzeit auch die zusätzlichen Direktkandidaten in den Bundestag. Damit das Verhältnis wieder stimmt, müssen aber alle anderen Parteien sogenannte Ausgleichsmandate bekommen.
In der alten BRD mit ihren zwei großen und einer, später zwei kleinen Parteien war das nie ein Problem. Es regierten mal CDU/FDP, dann SPD/FDP und schließlich wieder CDU/FDP. Und das große Problem „CSU“ die statt der CDU nur in Bayern gewählt werden konnte, trat schon deshalb nicht auf, weil die CSU regelmäßig mehr als 50% der Stimmen einfuhr – und damit neben all ihren Direktkandidaten auch noch ein paar Landeslistenkandidaten entsenden durfte.
Ergebnis der Bundestagswahl 2021
Die folgende Tabelle berücksichtigt, dass nur 80,7% der Stimmen für die Aufteilung der Mandate relevant sind – der Rest ging an Parteien unterhalb der 5%-Hürde, war ungültig oder eine Enthaltung. Damit ergäbe sich für 2021 nach den Zweitstimmen folgendes Ergebnis:
Partei | Ergebnis | Anteil für Bundestag | Sitze (597)* |
CDU | 19,8% | 24,5% | 147 |
CSU | 5,2% | 6,4% | 38 |
SPD | 25,7% | 31,9% | 190 |
Grüne | 14,8% | 18,3% | 110 |
Linke | 4,9% | 6,1% | 36 |
AfD | 10,3% | 12,8% | 76 |
- zu vergeben sind nur 597 Sitze, der SSW in Schleswig-Holstein, der die dänische Minderheit im Land vertritt, bekam mit 0,1% der Stimmen einen Sitz im Bundestag, weil er von der 5%-Sperrklausel ausgenommen ist.
Seit 2009 erzielt die CSU aber Wahlergebnisse, die deutlich unter 50% liegen. Die Gründe dafür sind vielfältig, heißen aber hauptsächlich „Freie Wähler“ und „AfD“. Nach wie vor ist Bayern erzkonservativ, nur die CSU ist nicht mehr so gefragt. Und damit sind wir auch schon beim Kern des Problems. Bei der Wahl 2021 hat die CSU 5,2% der Stimmen (31,7% bezogen auf Bayern) gewonnen – ihr stehen also rechnerisch 6,4% von 598 (tatsächlich 597, wegen des SSW) Abgeordnetenstühlen zu. Das sind 38 Sitze. Allerdings gewann die CSU 45 von 46 Direktmandaten – München-Süd ging an die Grünen. Sie hat also 7 Abgeordnete mehr, als ihr nach dem Verteilungsschlüssel zustehen. Hier kommen nun die Ausgleichsmandate ins Spiel – alle anderen Parteien bekommen zusätzliche Mandate, bis das Verhältnis zwischen ihnen und der CSU wieder stimmt.
Warum aber wächst wegen 7 Abgeordneten der Bundestag um 138 Plätze? Nun, hier kommt ein bisschen einfache Arithmetik ins Spiel. 7 Abgeordnete zu viel bei 6,4% müssen durch x Abgeordnete für den Rest ausgeglichen werden:
7 Abgeordnete / 6,4% * (100%-6,4%) = 101 Abgeordnete
Allein die CSU ist wegen ihres schlechten Zweitstimmeregbnisses damit für 101 zusätzliche Abgeordnete verantwortlich! Man sieht, dass ohne die CSU wohl gar keine Diskussion nötig gewesen wäre: Eine Größenordnung von 30-40 zusätzliche Abgeordneten verkraften wir schon seit vielen Jahren.
Das neue Wahlrecht – alle müssen bluten
Die Koalition hat nun ein Wahlrecht vorgestellt, das einen Bundestag mit 598 Abgeordneten garantiert – es gibt keine Ausgleichsmandate mehr. Das wird erreicht, indem zukünftig der gesamte Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt wird. Zwar gibt es noch Direktkandidaten, aber ein Sieg im Wahlkreis führt nur dazu, dass die Kandidaten auf einer Warteliste landen – nur wenn das bisherige Zweitstimmenergebnis (die Zweitstimme heißt zukünftig Hauptstimme) es zulässt, kommen die Kandidaten in den Bundestag. Dazu noch ein Hinweis: 2021 hat in Deutschland kein einziger Direktkandidat eine absolute Mehrheit der Erststimmen erreicht.
Für die CSU hieße das, bezogen auf das Ergebnis aus 2021, dass die 7 Kandidaten mit den schlechtesten Ergebnissen eben nicht in den Bundestag kämen. Und genau das ist der Stein des Anstoßes – die CSU möchte natürlich ihre Pfründe behalten und weiterhin möglichst viele Abgeordnete in den Bundestag schicken. Das alte System hatte natürlich für alle Vorteile: auch die anderen Parteien durften zusätzliche Abgeordnete schicken. Deshalb führt das neue Wahlrecht auch dazu, dass alle Parteien „bluten“ müssen – bei den anderen sind es allerdings zumeist die Listenkandidaten, deren Platz nicht durch einen Direktwahlkampf vor Ort erkämpft wurde.
Das CDU-Modell: Gut ist, was mir nützt!
Die Union hat sich daher ein ganz anderes System ausgedacht – sie nennt es „Grabenwahlsystem“, weil zwischen Direkt- und Listenkandidaten ein „Graben“ gezogen wird, der nicht übersprungen werden kann. Bei dieser Methode werden ebenfalls 598 Plätze vergeben – die Hälfte ausschließlich durch die Erststimme, die andere Hälfte durch die Zweitstimme. Sie dürfen raten, wer davon in den Jahren 2005-2017 als einziger profitiert hätte:
Jahr | Unions-Wahlergebnis | Unions-mandate* | Unionsmandate nach Grabenwahlrecht | %-Anteil Union nach Grabenwahlrecht |
2005 | 35,2% | 220 | 255 | 42,6% |
2009 | 33,8% | 230 | 319 | 53,3% |
2013 | 41,5% | 295 | 360 | 60,2% |
2017 | 32,9% | 207 | 329 | 55% |
*Die Anzahl wurde auf 598 Mandate normiert, um vergleichbare Werte zu erhalten.
Ab 2009 hätte die Union aus CDU und CSU jeweils die absolute Mehrheit der Abgeordneten gestellt. Logisch, dass man dort dieses Modell als das beste seit geschnittenem Brot feiert. Selbst 2021 hätte es immerhin noch für die einfache Mehrheit von 36% der Abgeordneten gereicht und damit wahrscheinlich auch für eine Koalition mit nur einem kleineren Partner.
Weniger Direktkandidaten – oder mehr?
Man kann über die Legitimität eines mit knapp 20% der Stimmen gewonnenen Mandats streiten. Als problematischer sehe ich, dass sich ein Abgeordneter, der nicht der Partei angehört, die ich gewählt habe, erwartungsgemäß weniger um meine Themen kümmern wird, wenn sie seiner Parteilinie zuwider laufen. Man mag bei den Parteien, die sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen, noch von einem gewissen Grundkonsens ausgehen. Im Osten dieses Landes haben wir aber inzwischen Wahlkreisgewinner der AfD. Ich müsste mit dem Klingelbeutel gepudert sein, würde ich als schwuler Mann mit einem queer-politischen Problem zu einem AfD-Bundestagsabgeordnetene gehen, der meinen Wahlkreis vertritt. Und so wird es wohl den meisten gehen, die die AfD nicht gewählt haben.
Ist also der Direktkandidat. der immerhin in seinem Wahlkreis knapp 270.000 Menschen vertritt, wirklich so wichtig? Das oft gebrachte Argument der persönlichen Ansprache verflüchtigt sich, wenn man bedenkt, dass dieser Abgeordnete in seinen vier Mandatsjahren pro Person gerade mal 7,7 Minuten Zeit hat – bei einem 24-Stunden -Tag, ohne dass er schläft oder irgendeine andere Tätigkeit ausübt. Wer seinen Abgeordneten kennt, gehört damit schon einmal zu einer privilegierten Gruppe.
Im derzeitigen Bundestag sitzen 299 direkt gewählte Abgeordnete, das sind 40,5%. Im neuen, mit dem Wahlrecht der Ampelkoalition, werden es ein paar weniger sein – nach dem alten Wahlrecht fallen ca 20-25 Abgeordnete unter die neue Regel. Da der neue Bundestag aber kleiner ist, beträgt der Anteil der Direktmandate zukünftig 43-47% – die Direktkandidaten machen also einen größeren Anteil als bisher aus. Jene, die uns weismachen wollen, das neue Gesetz entwerte die Direktmandate, sind also im Irrtum.
Fazit
Für die Fans des Mehrheitswahlrechts enthält das neue Gesetz nur schlechte Nachrichten: Mandate werden streng nach dem Verhältniswahlrecht aufgeteilt; Verhältnisse wie in Großbritannien oder gar USA, wo auch Wahlverlierer zum Präsidenten gewählt werden können, werden hier auch zukünftig nicht entstehen. Für alle anderen enthält das Gesetz nur gute Nachrichten. Wählen wird nicht komplizierter, der Bundestag schrumpft auf Normgröße, und Mehrheitsverhältnisse sind von der ersten Hochrechnung an klar. Nur die paar Direktkandidaten, die nun auf der Warteliste bleiben, müssen zukünftig einem anderen Job nachgehen. Wie berechnet wurde, träfe es auch den Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Das wäre kein großer Verlust für die Politik.
Danke, dass Sie bis hier durchgehalten haben – es war ja diesmal ein wenig trockener als üblich.
Es grüßt herzlich
Ihr JL7